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Friedrich Spitta: Im Abendrot

Erschienen in
"Monatschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst"
herausgegeben von Dr. Friedrich Spitta und Dr. Julius Smend,
Professoren der evangel. Theologie an der Universität Strassburg
Verlag van Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen, Juni 1903

Am 10. Juni würde Heinrich von Herzogenberg seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert haben, wenn er uns erhalten geblieben wäre. Jetzt ruht er auf der Höhe des schönen Friedhofes von Wiesbaden, und an seinem Gedächtnistag werden Vieler Gedanken sich aufmachen zu dem stillen Hügel mit dem Denkmal, auf dem Adolf Hildebrand das edle Angesicht dieses wahrhaft adeligen Menschen und Künstlers der Nachwelt erhalten hat.
 
Aber nicht bloss dorthin, sondern auch zu seinem Sommerheim über dem Bodensee auf der grünen Matte des Appenzeller Landes , zum "Abendrot". Dort würde er den Tag verbracht haben, wenn er noch unter den Lebenden gewesen wäre, und würde unter den von wildem Wein umrankten Türe, über der die Worte geschrieben stehen: "Bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget", alle die in seine Arme eilenden Freunde empfangen haben mit jener Herzlichkeit, die uns allen, die wir ihn gekannt, unvergesslich bleiben wird. Wohl hatte er Grund, dieses sein Haus "Zum Abendrot" zu nennen, ein Name, aus dem nicht bloss süsser Frieder, sondern auch leise Wehmut klingt. Er hat es bezogen, als ihm sein reichbegabte, hochherziges Frau durch den Tod entrissen und als ihm selbst in Folge schweren Leidens der ungehinderte Gebrauch seiner Glieder genommen worden war. Aber der sanfte Friede dieses Aufenthalts hat keine Verstimmung oder Untätigkeit bei ihm aufkommen lassen, sondern ihm die Sammlung gegeben zu einem überaus reichen Schaffen, dessen Früchte zum weiten grössten Teile dem evangelischen Gottesdienst zugefallen sind.
 
Im vorigen Jahr hat Ernst von Wildenbruch das "Abendrot" besucht und unter dem Titel "Das tote Haus am Bodensee" im Oktoberheft der "Deutschen Rundschau " ein Bild der Stimmung entworfen, die ihn dort ergriffen. Sie war so düster wie ein trüber Herbsttag. Der quälende Eindruck des toten Hauses mit all den stummen Erinnerungen an den geschiedenen, von ihm hochverehrten Mann hat ihm auch das Bild des Lebenden verdunkelt; er sieht vor sich einen sich mühselig dahinschleppenden Körper, blickt in ein Gesicht, in das leibliche und seelische Leiden sich eingezeichnet haben, liest in einer verlangenden, nie erlangenden, gequälten Seele, die für ihr heissestes Empfinden den gewollten künstlerischen Ausdruck nicht gefunden - kurz, er steht vor einem Lebenswerk, das sich ganz so ausnimmt wie das tote Haus am Bodensee.
 
Mir wäre es vermutlich auch nicht wohl zu Mute gewesen, wenn ich die mir so liebe Stätte in dem Zustand gesehen hätte, wie Wildenbruch sie gefunden; schwerlich werde ich je wieder meinen Fuss über ihre Schwelle setzen. Aber wenn ich mich im Geist zurückversetze in das Haus, als die Seele noch nicht aus ihm gewichen war, so überkommt mich doch ein Lächeln bei der pessimistischen Schilderung des Dichters: Er hat doch das Bild der Wirklichkeit nicht gekannt,(Fussnote 1) ja sein Phantasie hat ihm manch lustigen Streich gespielt. Als er an dem Bette stand mit der schönen Eichendorffschen Inschrift ("Schlafet in Ruh, Vorüber der Tag und sein Schall. Die Liebe Gottes deckt euch zu Allüberall") und diese in Beziehung setzte zu Herzogenberg, der sich vermutlich auf dieses Lager ausgestreckt habe, ahnte er nicht, dass der Schreiber dieser Zeilen hier manche liebe Nacht vortrefflich geschlafen hat, und das von Wildenbruch mit so viel poetischer Kraft gezeichnete Jammerbild des dem Grabe zuwankenden Tondichters einmal in einem Anfall übermütigster Laune alle Teile jenes Bettes, ja des ganzen von mir benutzten Zimmers mit Zetteln versehen, auf die er "Lahme Xenien" geschrieben hatte, die mich bei der Rückkehr von einer kleinen Reise wie in allen Ecken lauernde lustige Kobolde begrüssten. - -
 
Nein, geseufzt und geweint haben wir im Abendrot nicht. Was Herzogenberg Schweres trug, das trat immer erst dann zu Tage, wenn es als abgeklärtes Gefühl in seinen Tönen sich offenbaren konnte und wollte. Wie er so merkwürdig frei war von aller Eitelkeit, wie es ihm in tiefster Seele zuwider war, andere zu verkleinern und sich selbst vorzudrängen, so habe ich ihn auch nie verstimmt darüber gesehen, dass die Zahl derer, denen seine Art zusagte, verhältnismässig klein war. Er äusserte sich wohl einmal missbilligend über einige Werke aus früherer Zeit, etwa über den Kolumbus, und widersprach der Schätzung, die sein beliebtestes Werk "Das deutsche Liederspiel" (Fussnote 2) auf Kosten besserer Kompositionen von ihm erfahre. Daneben aber sprach er als ruhige Überzeugung aus, dass gewisse Werke von ihm, obenan die "Erntefeier", es wert seien, ihn zu überleben, und dass sie ihn auch überleben würden.
 
Das ist auch die Stimmung, die mich beherrscht, wo ich zum 10. Juni im Geist einkehre im "Abendrot" und die Werke aufschlage, die er uns für den Gottesdienst hinterlassen, obenan die 5 Hefte der Liturgischen Gesänge, die Geburt Christi, die doppelteilige Passion, die Erntefeier, die Totenfeier, den Begräbnisgesang, die Motetten, die biblischen Szenen, auch Messe und Requiem und nicht zum wenigsten die Choralkantate "Gott ist gegenwärtig". Es ist ja begreiflich, dass bei der eigentümlichen Kunststimmung unsrer Zeit Vieles von diesen Werken - von seinen anderen, vor allem von den, Perlen reinsten Glanzes aufweisenden Liederheften gar nicht zu reden - überhaupt nicht einmal angesehen, geschweige denn studiert wird; und man darf sich fast darüber wundern, dass der "Kunstwart" in seinem Ratgeber zu Weihnachten vorigen Jahres Herzogenberg die Ehre angetan hat, neben so manchen Kleinigkeiten mit seiner "Erntefeier" erwähnt zu werden, von der K. Krebst sagt: "ich wüsste in der ganzen Kirchenmusik-Literatur nichts, das ich ihr an die Seite stellen könnten." Das ist nun einmal so der Lauf der Dinge. Die an sich durchaus berechtigte Begeisterung für neue Kunstformen und Kunstziele ist zu allen Zeiten verbunden gewesen mit Ungerechtigkeit gegen die Künstler, die aus innerer Nötigung zum Ausdruck ihrer Ideen Formen wählten, die den Stürmern überlebt erschienen. Wer aber nicht in der Lage ist, für irgend eine Richtung Partei zu ergreifen, sondern vor allem darauf schaut, dass die betreffende Form einen der Grösse des dazustellenden Gegenstandes entsprechenden Inhalt habe, der wird nur wünschen, das Ideen, welche einmal Gestalt gewonnen haben, nicht ungespürt und unerlebt an den Menschen vorüberziehen.
 
Das ist auch mein Wunsch zu Herzogenbergs 60stem Geburtstag. Ich gebe keinen schlechten Rat, wenn ich die, welche die Tonkunst in unsrer Kirche zu pflegen habe, einlade, dann und wann auf die Höhe zu steigen, zu der mich dieser Gedenktag geführt hat, und bei Herzogenberg im "Abendrot" einzukehren, dessen heiteren und tiefen Frieden ich zögernden Fusse verlasse. Still ruht der See im Abglanz westlichen Himmels, der über den Bergen flammt; im klaren Äther schwebt regungslos, so könnte es scheinen, ein Alder. Durch meine Seele aber klingt, was der Meister hier in Töne gesetzt:
 
                           Lass mein Herz
                           überwärts
                           wie ein Adler schweben
                           und in dir nur leben."(Fussnote 3)

 
  1. Eine Korrektur seiner Vorstellungen hat auch Dr. Ernst Hauptmann gegeben im Januarheft der Deutschen Rundschau: "Noch einmal: Heinrich von Herzogenberg" zurück
  2. "Deutsches Liederspiel op. 14. Text nach älteren und neueren Volksliedern, für Solostimmen und gemischten Chor mit Begleitung des Pianoforte zu vier Händen". Dieses Werk wird anlässlich der Herzogenberg-Tage 2001 am 1. Juli in Heiden aufgeführt. zurück
  3. Aus der Kantate über den Choral "Gott ist gegenwärtig" op. 106 (Melodie: Wunderbarer König) von Gerhard Tersteegen) für Gemeindegesang und Chor mit Begleitung von Orchester (Streichquintett, Trompeten, Pauken) und Orgel (komponiert im Sommer 1897 im Abendrot) zurück
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