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Friedrich Spitta:

Der Hintergrund der Konzeption eines Weihnachtsoratoriums


 

Als nach dem 1. Weltkrieg die Notenausgaben von Herzogenbergs Leipziger Verleger Rieter-Biedermann durch die Edition Peters übernommen wurden, konnte Friedrich Spitta in einem Beitrag zum Jahrbuch der Musikbibliothek Peters (26, 1919, S. 34ff.) unter dem Titel
 

Heinrich von Herzogenbergs Bedeutung für die evangelische Kirchenmusik
 

ausführlich über die einschlägigen Werke Herzogenbergs referieren. Vor der detaillierten Besprechung des Weihnachtsoratoriums berichtete er zunächst von seinen allgemeinen Überlegungen, die bis dato tendenziell stillosen Aufführungen der seit den 1880er-Jahren sich bildenden Kirchenchöre zu verbessern gerade auch durch größere Kompositionen geringerer Schwierigkeit, welche den Chorleitern etwas Einheitliches in die Hand geben, an dem sich die Kräfte des Chores mit Erfolg versuchen könnten. An solchen Werken, die mit leichter Ausführbarkeit einen künstlerischen Wert verbinden, der sie über die breite Masse des Mittelmäßigen hinaushebt, ist kein Überfluss.(S.40)

Zum Kasus Weihnachtsmusik und speziell zur damals bereits gegebenen Dominanz von J.S. Bachs Weihnachtsoratorium führte er (S. 40f.) folgendes aus:

Von den Gelegenheiten, wo der Kirchenchor am ersten selbständig aufzutreten Anlass findet, ist die Weihnachtszeit die wichtigste. Hier bieten sich ihm viele einzelne Stücke für Chor oder Sologesang, nicht aber viele Werke, die das Ganze des Festes in einer für diese Verhältnisse passenden und zugleich künstlerisch genügenden Weise zusammenfassen.

Leute, die gewohnt sind, die Sache nur von einer Seite anzusehen, meinen freilich, Bachs Weihnachtsoratorium sei das ein und für alle Male unübertroffene Meisterwerk, und man könne unsern Chören nur raten, sich an dessen Einübung heranzumachen. Dabei übersehen sie einerseits, dass die technischen Schwierigkeiten, die es aufgibt, für die meisten Kirchenchöre unüberwindlich sind: die Chöre, die Soli, das Orchester stellen Aufgaben künstlerischer und pekuniärer Art, denen die Kirchenchöre durchweg nicht gewachsen sind. Dazu kommt, dass inhaltlich dieses Werk keineswegs allen den Anforderungen genügt, die man an eine kirchliche Weihnachtsmusik in unsrer Zeit stellt. Es versteht sich von selbst, dass damit kein Urteil über die Musik, sondern nur über den Text abgegeben wird. Die Dichtung, welche die Worte des Evangelisten umgibt, entspricht weder in ästhetischer noch religiöser Beziehung unsern modernen Bedürfnissen. Es genügt, dafür nur auf das erste Altsolo „Nun wird mein liebster Bräutigam – Bereite dich Zion mit zärtlichen Trieben“ hinzuweisen. Um der unvergleichlichen Musik willen lassen wir uns schließlich alle Texte gefallen.

Aber es bleibt doch bestehen, dass dieser Gesichtspunkt bei den kirchlichen Feiern nicht maßgebend sein darf. Äußerungen, wie wir sie in unsern Gemeindegesangbüchern längst nicht mehr ertragen, werden in Bachs Werken ohne Murren hingenommen; um der Musik willen dispensiert man sich von aller Kritik: man nimmt eben die Worte nicht ernst. Das versteht man bei rein musikalisch Interessierten, man kann es aber denen, welche die Sache von religiös-kirchlicher Seite ansehen, nicht verdenken, dass sie sich damit nicht zufrieden geben. Dogmatik wie Ästhetik können in den Ansprüchen an ein kirchliches Kunstwerk, das für die Gemeinde der Gegenwart bestimmt ist, nicht ausgeschaltet werden. Somit beruht es nicht auf Überhebung, wenn man für die Praxis sich nach einem Ersatz für Bachs Weihnachtsoratorium umsieht, und es sind ganz andere Rücksichten als Werturteile über die Kunst von Bach und Händel gewesen, wenn man für die kirchliche Praxis dem ersten Teil von Händels Messias trotz der mangelnden Choräle vor dem Weihnachtsoratorium von Bach den Vorzug gegeben hat.

Die hier flüchtig hingeworfenen Gedanken werden es begreiflich machen, dass ich in meinen Plänen für einen Ausbau der evangelischen Kirchenmusik mit der Bitte an Herzogenberg herantrat, ein zusammenhängendes Werk für die Weihnachtszeit zu schreiben. Ich dachte dabei an einfachste Mittel, vierstimmigen Chor mit Harmonium- bzw. Orgelbegleitung. Die Rezensenten, die seine „Geburt Christi“ mit dem billigen Einwand abzutun meinten, sie litte eben doch gar keinen Vergleich mit dem reich ausgestatteten Bach’schen Gegenstück, haben keine Ahnung davon gehabt, wie sich Herzogenberg durch asketisch enge Grenzen, die ich ihm gesteckt hatte, beengt gefühlt hatte. Mit Rührung erinnere ich mich des Ringkampfes, den ich mit ihm durchgefochten habe, von der Überzeugung getragen, ein großer Künstler werde auch bei geringen Mitteln etwas Hervorragendes leisten können.

Die Beschränkung auf die Begleitung der Orgel oder gar des Harmoniums, wenn man den Chor, wie ich es forderte, nicht im Rücken der Gemeinde auf der Orgelempore aufstellte, sondern in deren Angesichte beim Altar, wollte ihm zuerst gar nicht in den Sinn. Die Hinzuziehung von Streichinstrumenten erschien mir bei unsern ländlichen Kirchenchören gewagt. Herzogenberg erwiderte scherzend: „Ein paar Bierfiedeler wird man doch gewiss überall auftreiben können“. Ich musste mich geben, erlebte dann aber noch einen letzten Angriff auf meine asketischen Forderungen. Ahnungslos überfiel er mich mit der Frage: „Eine Oboe wirst du mir aber doch wohl noch gestatten?“ Entrüstet entgegnete ich, ich sähe schon, dass er mir nach und nach das ganze moderne Orchester abschwindeln und damit meine wohl erwogenen Pläne zunichte machen werde. Er versicherte, nichts mehr erbitte er als dieses eine Blasinstrument, dessen Beschaffung doch gewiss nirgends besondere Schwierigkeit machen werde. Ich gab nach, ohne zu ahnen, in wie geistreicher Weise er diese Erweiterung seiner ursprünglichen Befugnisse verwenden wolle...

Bei der Herstellung des Textes der Weihnachtsmusik war für mich maßgebend, dass freie Dichtung ausgeschaltet werden müsse und außer dem Bibeltexte nur die Lieder heranzuziehen seien, die sich im Laufe der Zeit als charakteristische Äußerungen der Weihnachtsstimmung herausgebildet hatten. Das bot die Gewähr dafür, dass das Werk einen wirklichen künstlerischen Ersatz schaffen würde für die bunten Programme, die unsre Chöre zur Weihnachtszeit aufzustellen pflegten. Ich zerlegte den Stoff in drei Teile: der erste umfasste die Adventsgedanken, der zweite die Geburtsgeschichte, der dritte die Anbetung des Christkindes.

Im ersten traten an die Stelle des den Bibeltext vortragenden Evangelisten vier Propheten, welche die bekanntesten Weissagungsworte vortrugen, jedesmal abgeschlossen durch einen figurierten Choral des Chores, das Ganze durch Gemeindegesang, der auch das Werk einleitet.

Der zweite bringt zuerst die Vorgeschichte der Geburt, Gabriels Botschaft an Maria, zweimal unterbrochen durch alte liebe Lieder und abgeschlossen durch das „Ehre sei Gott in der Höhe“ und entsprechenden Gemeindegesang.

Die Geschichte der Anbetung endlich umfasst vier Chorchoräle und schließt dann, dem Eingangsteil entsprechend mit Gesang von vier Evangelistenstimmen ab, worauf der Schlusschor und der Gesang der Gemeinde folgt.

 

 

 

Werkbeschreibung von Friedrich Spitta

 

 Zum Werk in seiner konkreten Gestaltung durch den Komponisten schreibt der für das Libretto Verantwortliche dann (S. 41-43):

 

Die Art, wie Herzogenberg diesen Stoff in etwa drei Wochen musikalisch bewältigt hat, legt ein glänzendes Zeugnis von der sicheren Meisterschaft ab, mit der er an solche Aufgaben herantrat. Den Evangelisten fasste er in einem wohl unbewusst an Scandelli und Schütz in ihren Osterhistorien sich anlehnenden Choralton mit seinem charakteristischen Aufstieg von g nach f, aus dessen ruhiger Gleichmäßigkeit an bedeutsamen Stellen, wie bei Nennung des Namens der Maria – ein liebenswürdiges Zeichen seiner katholischen Jugendempfindung! – empfindungsreiche Melismen und überraschende Ausweichungen aufblühen. (Folgt Notenbeispiel.) Die Worte der redenden Personen: Maria (Sopran), der Engel (Alt), heben sich durch größere Freiheit von den erzählenden Worten des Evangelisten ab.

Von großer Mannigfaltigkeit sind die Choralbearbeitungen. Dreimal nach den Weissagungsworten des ersten Teils erklingt die Melodie des von Brahms sozusagen für den musikalischen Gebrauch wieder entdecken katholischen Liedes aus dem 16. Jahrhundert „O Heiland, reiß die Himmel auf“ und werden jedesmal in charakteristischer Weise ausgeführt. Als Abschluss des vierten Verheißungswortes steht der von Herzogenberg früher in freier motettenartiger Weise komponierte Vers „Kommst du, kommst du, Licht der Heiden“ («
Weihnachtslied op. 57,6» für sechsstimmigen Chor a cappella, neu ediert im Stuttgarter Carus-Verlag), hier in einer Bearbeitung der im Bass liegenden Originalmelodie, mit reicher freier Begleitung, aus der sich am Anfang und am Schluss bedeutsam die Solovioline heraushebt.

Im zweiten Teile tritt das Lied „Jesus ist ein süßer Name“, eingeleitet durch den zweimal von den Frauen- und Männerstimmen unisono hingehauchten heiligen Namen in einfachem homophonen Satze auf, zwischen dessen einzelnen Zeilen die Geigen das Schlusswort in feierlichen Klängen weiter tragen. Majestätisch, mit Verteilung der Weise an die einzelnen Stimmen, schwingt sich die Melodie „Hosianna Davids Sohn“ empor zum Preise des ewigen Reiches des Messias. Die Perle der Choralbearbeitungen ist die durch den edlen Satz von Praetorius berühmt gewordene Weise „Es ist ein Rost entsprungen“. Sie kündigt sich bereits in der vorangehenden Erzählung des Evangelisten zweimal an durch zarte Zwischenspiele der Geigen, die sich dann zu mehrtaktigen Sätzen entwickeln, welche zwischen die einzelnen Zeilen der Melodie treten und sie wie schlanke Rosenranken miteinander verbinden. Ähnlich entfaltet sich die alte Wiegenmelodie „Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein“, die zu einem herzigen Duett zwischen Maria und Josef gestaltet ist, vom Violoncell begleitet, das vorher schon in einem selbständigen Vorspiel die Melodie geheimnisvoll in die heilige Nacht hinein klingen lässt.

Im dritten Teile endlich wird die alte Melodie des Quempas zunächst zu einer Hirtenmusik verwandt, wo nun als charakterisierendes Instrument die von Herzogenberg so dringend gewünschte Oboe eintritt und von da an bei den Gesängen der Hirten und Kinder in Tätigkeit bleibt. Die Hirtenmusik geht über in den auf dieselbe Melodie gesetzten dreistimmigen Kinderchor „Kommt und lasst uns Christum ehren“, dessen Zeilen von reizenden Zwischenspielen der Oboe mit den Streichern nach Motiven des Liedes unterbrochen werden. Im Wechsel der Melodie in Sopran und Tenor, von neckischen Zwischenspielen unterbrochen und mit einem kleinen Scherz der Oboe abgeschlossen, fließt das durch Carl Riedel bekannt gewordene böhmische Lied „Kommet, ihr Hirten, ihr Männer und Fraun“ dahin. Ein Höhepunkt in der Bearbeitung der Choralmelodien bedeutet das alte „In dulci jubilo, Nun singet und seid froh“, wo Solostimmen und Chor mit einander abwechselnd den Eindruck einer geradezu ausgelassenen Freude hervorbringen; während das alte Hirtenlied „Als ich bei meinen Schafen wacht“, vom Vorsänger und Männerchor gesungen und von der Hirtenschalmei begleitet, einen wunderbar poetischen Ausklang der heiligen Nach bildet. Zum Schluss endlich singt der einstimmige Kinderchor mit seiner Oboe die Melodie „Gelobet seist du, Jesu Christ, in die Fluten des in zwei Chöre geteilten Gesanges „Also hat Gott die Welt geliebt“ hinein.

Nimmt man dazu, dass das Werk beginnt und schließt mit der Weihnachtsmelodie „Vom Himmel hoch“, die auch aus dem Orgelvor- bzw. Nachspiel erklingt; dass der erste Teil abschließt mit dem Adventsliede „Wie soll ich dich empfangen, und dass in das „Ehre sei Gott in der Höhe“ am Ende des zweiten Teiles die Orgel brausend einfällt mit einer Einleitung zu dem Gemeindegesang „Allein Gott in der Höh sei Ehr“, so darf man wohl sagen, daß dieses Weihnachtsoratorium in einzigartiger Weise die dem Volke lieb gewordene Fülle der Weihnachtslieder zusammengefasst und in ebenso geistreich-künstlerischer wie volkstümlicher Weise bearbeitet hat.

Daraus erklärt sich auch die ungemeine Anziehungskraft, die dieses Werk gefunden und in hunderten von Aufführungen in ungeminderter Weise erwiesen hat. Hier zeigt sich der Meister der Variation. Dahinter verschwinden fast die freien Chorkompositionen, die an einigen Stellen auftreten, die schlichten Klänge der Sehnsucht am Anfang und die Männerquartette der Propheten; die fröhliche Einleitung zur heiligen Nacht in Chor- und Sologesängen zu Arndts Worten „Erklinge Lied und werde Schall“; der geheimnisvolle dreistimmige Gesang der Engel über der Krippe und deren Jauchzen auf der Flur von Bethlehem, das Lied der Hirten beim Hinziehen zur Krippe; der Gesang des Benedictus der Evangelisten zum Schluss mit dem immer neu einsetzenden Halleluja des Chores, und endlich der Schlusschor „Also hat Gott die Welt geliebt“ mit seiner überquellenden dankbaren Freude. Alles in allem liegt ein Werk vor, das als eine wahrhafte Bereicherung der Kirchenmusik gelten darf, zumal wenn man auf die Leistungsfähigkeit der Chöre sieht und die Auffassungsfähigkeit der Gemeinden, der solche musikalische Feiern die gottesdienstlichen Erlebnisse vertiefen sollen.

 

 




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