Herzogenberg und Heiden
Übersicht

Aktuelles
• Der Komponist,
  sein Umfeld,
  seine Zeit
Werkverzeichnis
   - nach Gattungen
   - nach Opuszahlen
• Musikwissenschaftl. Beiträge, 
  Werkeinführungen, Analysen

Briefwechsel/Transkriptionen
• Herzogenberg-Gesellschaft
Herzogenberg-Freundeskreis
• aufgelöst: Herzogenberg-Fonds 
Herzogenberg-Konzerte & Zyklen
in Heiden     andern Orts  
• au
f YouTube
Gönner der Sache
Herzogenberg
und
der Konzertreihen
CD-Kiosk
• Bücher
Musikverlage
Herzogenberg-Noten:
Werkliste, Bestellungen,
Verlage,
gratis Download
Aktuelles
• Links

 

Ein Artikel, erschienen in MUSICA SACRA,
der Zeitschrift für katholische Kirchenmusik
Heft 5, September/Oktober 2007

 

Konrad Klek

EIN ADLIGER ALS KIRCHENKOMPONIST
Heinrich von Herzogenberg (1843–1900)

 

«Und wenn ich des Augenblicks gedenke, als meine Musik durch die ganze Thomaskirche flutete vom Altar zur Orgel und wieder zurück, geschwellt von dem unvergesslichen Unisono der Gemeinde, dann erlebte ich eine Stunde, deren sich kein noch so beliebter Konzertkomponist unserer Tage zu rühmen hätte.»

Mit diesen Worten benennt Heinrich von Herzogenberg die Glückserfahrung bei der Uraufführung seiner Geburt Christi in der Strassburger Thomaskirche. Erst seit Kurzem in engerem Kontakt mit dem (evangelischen) Strassburger Theologieprofessor Friedrich Spitta, hat er sich für das Projekt «Kirchenoratorium» gewinnen lassen und im Sommer 1894 in gerade mal drei Wochen dieses Weihnachtsoratorium geschrieben, zu dem ihm Spitta beim Besuch in seinem Sommerhaus in Heiden/Appenzellerland (Schweiz) den Text zusammengestellt hatte.

Entscheidend für die Konzeption des Werkes ist: Es soll kein Konzertoratorium sein, das Aufführende einem Publikum präsentieren, sondern Weihnachtsmusik, die das Empfinden der Hörer durch Vertonung bekannter Weihnachtslieder direkt aufgreift und diese als Gemeinde im Mitsingen sogar einbezieht.

So steht nun Freiherr von Herzogenberg, Nachfahre französischer Grafen, die infolge der Revolution nach Österreich ausgewandert sind, an seinem Dirigentenpult in der mit 2000 Menschen gefüllten Kirche und erlebt, wie er als Komponist im Fluidum des von der rückwärtigen (Silbermann-)Orgel geführten Gemeindegesangs aufgeht. Er erfährt dies als höchstes Glück, als unermessliche Steigerung gegenüber der Erfahrung, als «Konzertkomponist» vom Publikum beklatscht zu werden. Als solcher war Herzogenberg tatsächlich nicht sehr erfolgreich. Es wäre aber billig, seine Strassburger Erfahrung nur als Kompensationsphänomen zu taxieren. Er empfindet tief, echt, erlebt als von aussen zur Kirchenmusik Gestossener intensiv das Eigentümliche dieser essentiell dialogischen Kunst. Als Adliger, dessen Lebensführung elitär programmiert wurde, ist er sensibilisiert für Abgrenzungen und für die spezifischen Möglichkeiten, gerade mit Kirchenmusik diese zu überwinden.

Chorsymphonik

Auf Vermittlung seines Freundes Philipp Spitta, des Bach-Biographen, ist Herzogenberg seit 1885 Professor an der Berliner Musikhochschule. Zuvor hat er Jahre künstlerischen Schaffens in seiner Heimatstadt Graz und in Leipzig verbracht, wo er zehn Jahre als Dirigent des Bach-Vereins gewirkt hat. Komponiert hat er bis dato vieles, Kirchenmusik jedoch eher zu Kontrapunktstudienzwecken: A-cappella-Motetten zu Chorälen, die erst 1898 ediert werden und choralbezogene Orgelwerke. Nachdem er eine Sinfonie herausgebracht hat, rät ihm Spitta, nun die ganz grosse Form anzugehen mit einem symphonischen Chorwerk etwa über Psalm 90. Der Katholik Herzogenberg blättert in seiner Lutherbibel und bleibt beim 94. Psalm hängen, den Orgelfans als Titel der Reubke-Sonate kennen: «Herr Gott, des die Rache ist, erscheine!» Dieser tatsächlich riesig disponierte Psalm mit zwei Chören, vier Solisten und vollem Orchester ist das chorsymphonische Meisterstück Herzogenbergs. Er integriert vielfältige Anregungen aus der Tradition – Bach, Händel, Mendelssohn – und formt sie zu einem eigenen Stil. Inhaltlich geht es um die Durchsetzung des Reiches Gottes als Reich der Gerechtigkeit.

Kurz danach erkrankt Herzogenberg an einem rheumatischen Leiden und muss eine zweijährige Auszeit nehmen, die ihn bis nach Nizza führt. Seit Herbst 1889 zurück in Berlin, ist sein Beitrag zur Kaisergeburtstagsfeier als Mitglied der Akademie der Künste fällig. So erklingt am 27. Januar 1891 das nächste chorsymphonische Werk der Königs-Psalm. Für das 20-minütige Stück mit Chor und grossem Orchester hat Herzogenberg souverän Verse aus den Königspsalmen zusammengestellt, deren Pointe wiederum das Kriterium der Gerechtigkeit ist, dem gerade auch das Agieren des Königs unterliegt.

Nachdem ihm der Königs-Psalm leicht von der Hand gegangen ist, setzt er sich sofort wieder hin und komponiert ein Requiem direkt in die Partitur. In Tonart (c-Moll) und Besetzung (ohne Soli) an den Klassiker Cherubini anschliessend, sind diese 50 Minuten Musik ein gedämpftes Requiem in erhabenem, lyrisch ruhigem Fluss der Chorstimmen, auch beim «Dies irae» nicht theatralisch auftrumpfend. Freund Spitta schreibt nach der Uraufführung eine lange Abhandlung Seelenmessen über Requiemvertonungen mit der Pointe: Bei Brahms seht ihr die evangelische Auffassung, bei Herzogenberg ist sie katholische Reinkultur geworden.

Im Herbst 1891 muss Herzogenberg wieder die Ämter preisgeben, diesmal wegen seiner Frau, deren langjährige, sich zuspitzende Herzkrankheit die Flucht aus Berlin gebietet. Asyl finden sie an der Riviera in San Remo. Elisabeth von Herzogenberg, die musikalisch hoch begabte und namentlich von Brahms als Gesprächspartnerin sehr geschätzte «Lichtgestalt», stirbt dort 44-jährig am 7. Januar 1892.

Trauerarbeit

Das kinderlose Ehepaar Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg hat eine symbiotische Künstlerehe geführt. Von nun an bedeutet Komponieren für den Witwer Trauerarbeit. Gerade so kommt es zu gesteigerter Produktivität.

Zunächst vollendet er noch in Italien mit einem hymnischen Schlusssatz in E(lisabeth)-Dur das Klavierquartett in e-Moll op. 75, dessen erste drei Sätze den Krankheitswochen abgerungen sind. Im Sommer 1892 zieht er nach Heiden, wo er im Vorjahr mit Frau und Schwiegermutter ein Grundstück mit Bodenseeblick gekauft und ein Haus zu bauen begonnen hat. Beide Frauen sind jetzt tot und er zieht allein in das selbst entworfene Haus «Abendroth» ein, das er zum «Freundeshotel» umfunktioniert.

Seit Herbst wieder in Berlin, sitzt er über Weihnachten allein in der Wohnung und entwirft in einer Woche die Todtenfeier, um mit dem Ausschreiben der Partitur genau am Todestag, dem 7. Januar 1893 fertig zu sein. Textgrundlage sind Bibelworte und Choralstrophen von der Bestattung Elisabeths. Das 45-minütige Werk verlangt den vollen symphonischen Klangapparat, Sopran- und Baritonsolo mit Chor. Die Musik ist im Wortsinn «gross-artig» und die Botschaft dieser «Kantate zum Todtenfest» ein ergreifendes persönliches Zeugnis vom Glauben an die Auferstehung mit Christus.

Kirchenmusik als neue Lebensaufgabe

Im Sommer 1893 macht Philipp Spitta seinen Theologenbruder Friedrich in Heiden mit Herzogenberg bekannt, was eine neue Schaffensphase begründet. Der an Bach geschulte Katholik schreibt nun konkret auf den evangelischen Gottesdienst bezogene Musik. Zunächst sind es Liturgische Gesänge op. 81, Motetten und liturgische Stücke (Halleluja, Amen) für jeweils einen (akademischen) Gottesdienst, den Spitta in Strassburg abhält. Ein Besuch in Strassburg an Estomihi 1894 überzeugt Herzogenberg restlos von einem solchen Gesamtkunstwerk Gottesdienst, gestaltet als dialogischer Schlagabtausch zwischen Chor, Gemeinde und Liturg.

Gleichwohl bleibt die Trauer lebensbestimmend. Im September 1893 entsteht in Heiden jeden Tag ein Klavierlied über ein schwermütiges Eichendorff-Gedicht. Als Elegische Gesänge werden sie in zwei Folgen mit den Opuszahlen 91 und 105 publiziert.

Das Jahr 1894 bringt einen weiteren schweren Verlust: Am Geburtstag der Gattin Elisabeth (13. April) erliegt Freund Philipp Spitta einem Herzschlag. Herzogenberg ist verzweifelt, sieht sich seines intimsten Gesprächspartners beraubt. Wenig später fängt er aber an zu komponieren, eine grosse Missa solemnis und ist damit bereits Mitte Juli in Heiden fertig. Auch dieses (einstündige) Werk kann nur mit dem Epitheton «grossartig» gewürdigt werden.

Im August 1894 bringt Friedrich Spitta nach Heiden die Idee vom Weihnachtsoratorium. Im September ist es fertig, am dritten Advent erklingt es in Strassburg (s. o.). Zum dritten Todestag Elisabeths am 7. Januar 1895 macht Herzogenberg eine grosse Motette fertig, die doppelchörig den Dialog zwischen leidenden und verklärten Seelen abbildet und später in op. 103 veröffentlicht wird.

Im Sommer 1895 kommt Friedrich Spitta mit ausführlichem Passionslibretto nach Heiden. Dafür braucht Herzogenberg immerhin ein halbes Jahr. Wieder gilt es, Gemeindegesang mit einzubauen und Herzogenberg realisiert eine geniale Idee. Die Evangelistenpartie ist durchgängig an einen Cantus firmus angelehnt, der dann nachher als Choral gesungen wird. So sind die Hörer gleichsam mitbetend von Anfang an aktiv. Die Chöre über kommentierende Bibelworte und Liedstrophen sind teilweise gross angelegt wie bachsche Kantatenchöre. Streichorchester und Harmonium sind so gesetzt, dass ein grosses Orchester nicht vermisst wird. Die Uraufführung der ganzen Passion dirigiert Herzogenberg diesmal in der Berliner Marienkirche am Samstag, den 3. April 1897. An diesem Tag hat morgens in Wien Johannes Brahms die Augen geschlossen. Zwei Tage später steigt Herzogenberg in den Zug nach Wien, um mitzuerleben, wie sie «den Einzigen» ins Grab senken.

Aus den Sommern 1895 und 1896 gibt es einen bewegenden, aber schwer zu deutenden Briefwechsel zwischen Brahms und Herzogenberg. Sie wollen sich unbedingt treffen, es klappt aber nicht. So tauschen sie nur Kompositionen aus mit eigentümlichen Glossierungen. Brahms kann Herzogenbergs Wendung zur Kirchenmusik überhaupt nicht goutieren und schickt als «Protest» seine Vier ernsten Gesänge nach Heiden, die Herzogenberg aber gar nicht erschrecken, sondern begeistern.

Wieder kommt nach wenigen Wochen Niedergeschlagenheit über den Tod von Brahms neuer Schaffensmut auf. Im Mai 1897 schreibt Herzogenberg eine neue Folge Liturgische Gesänge zum Erntedank, um sich warmzulaufen für die gigantische Aufgabe Erntefeier, die ihm Spitta im Sommer 1896 aufgegeben hat. Das Tersteegen-Jubiläum (200. Geburtstag) fordert zwischendurch eine Choralkantate zu «Gott ist gegenwärtig», die in drei Heidener Wochen fertig wird, und dann reift bis zum Abschluss im nächsten Sommer am 2. Juli 1898 die Ernte seines Schaffens, das über zweistündige Oratorium Erntefeier. Hier hat Spitta den Einsatz des vollen Symphonieorchesters gestattet. Gleichwohl bleibt es «Kirchenoratorium» – am Ende singen und spielen Hörer und Ausführende «Gloria sei dir gesungen» ...

Die Uraufführung seines Opus maximum und ultimum im Rahmen des von Spitta in Strassburg im Juli 1899 ausgerichteten Deutschen evangelischen Kirchengesangvereinsfestes muss Herzogenberg im Rollstuhl miterleben. Das alte Leiden hat ihn wieder befallen. Er nimmt wegen der Bäder Wohnung in Wiesbaden, kann nur noch wenige Editionen redigieren und stirbt dort am 9. Oktober 1900.

Sein Grab an einem der Hauptwege auf dem Wiesbadener Waldfriedhof mit einem zwei Jahre später von den Freunden gestiftetem Grabmal Adolf von Hildebrands ist erhalten. Jetzt nicht mehr lesbar ist die Bibelwort-Inschrift aus dem letzten Chor der Erntefeier: «Denn bei dir ist die Quelle des Lebens und in deinem Lichte sehen wir das Licht» (Ps 36,10).

Notenedition

Der Carus-Verlag legt seit 1987 sukzessive die als Drucke greifbaren geistlichen Werke neu auf, 2003 erschien die e-Moll-Messe in einer vorzüglichen Neuausgabe. Seit 1995 sind auch die seinerzeit nicht gedruckten Materialien der grösseren Werke bei der Edition Peters wieder greifbar. Appetit machen auf die Begegnung mit diesen einzigartigen Werken kann das Zeugnis des Amsterdamer Freundes Julius Röntgen, der 1895 nach ersten Proben mit der Messe schrieb:

«Ich kenne kaum ein Werk, das so herrlich zum einstudieren ist, wo Alles so gesanglich ist und man ohne Mühe die schönsten Chorwirkungen erreicht. Das fühlen die Sänger auch und es ist eine Freude zu sehen und zu hören, wie gerne sie es singen.»

 

Viele Informationen zum Komponisten, zu den Werken, zu Einspielungen und Notenausgaben gibt es auf der Homepage der Internationalen Herzogenberg- Gesellschaft unter www.herzogenberg.ch.

--------------------------------------------------------------------------------

ZUM AUTOR

Konrad Klek, evang. Theologe und Kirchenmusiker, seit 1999 Professor für Kirchenmusik an der Universität Erlangen-Nürnberg, stiess auf Herzogenberg im Rahmen seiner Dissertation über die liturgischen Bestrebungen von Friedrich Spitta. Mit seinen Chören in Nürtingen (1990–1999) und Erlangen hat er viele Werke Herzogenbergs aufgeführt, als Erstaufführung Todtenfeier, Requiem, Königs-Psalm. Er ediert im Carus-Verlag Herzogenberg-Werke und ist seit der Gründung im April 2004 Präsident der Internationalen Herzogenberg- Gesellschaft.  

 

 

zurück

 

nach oben  Übersicht