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  • Mürzzuschlag, 13.09.2000, 18 Uhr
     
    Eröffnung
     
    Heinrich von Herzogenberg (1843-1900)
     
    aus Fünf Clavierstücke op.25:
    (Seinem lieben Freunde Edvard Grieg, Leipzig ca. 1877/78?)
     
    Notturno - Capriccio
 
Vortrag Universitätsmusikdirektor Prof. Dr. Konrad Klek (Erlangen),
gehalten anlässlich des Brahmsfestivals 2000 in Mürzzuschlag (Steiermark),
dass das dem Thema hatte: „Brahms und die Herzogenbergs - Spuren einer Freundschaft“
 

Heinrich von Herzogenberg - Konturen eines untypischen Künstlerprofiles

Daß der 100.Todestag Heinrich von Herzogenbergs heuer nicht in aller Munde ist, auch nicht in seinem Geburtsland Österreich oder in seiner Geburtsstadt Graz, das liegt nicht nur an der übermächtigen Konkurrenz durch den 250.Todestag Johann Sebastian Bachs, es ist zumindest ein Stück weit Herzogenberg selbst zuzuschreiben. Ich zitiere eine Bemerkung seines besten Freundes Philipp Spitta, dem großen Bach-Biographen:
„Herzogenberg hat eine Eigenschaft, die er sicherlich mit keinem Künstler unserer Zeit theilt, nur mit Mühe überwinden können: die Lust, sich durch eine gleichgültige Miene unscheinbar zu machen. Es klingt vielleicht befremdend, dennoch glaube ich das Rechte gesagt zu haben. Diese reichbegabte Künstlernatur, auf einer Höhe allgemeiner Bildung stehend, welche allein die Ausgewähltesten seiner Kunstgenossen mit ihm theilen dürften, schien sich zeitweilig nur dann ganz wohl zu fühlen, wenn man ihn nicht bemerkte.“
Werte Musikfest-Besucher, daß Heinrich von Herzogenberg in diesen Tagen von uns durchaus bemerkt wird, dafür ist Dank der höchst bemerkenswerten Programmgestaltung gesorgt. Wir brauchen uns aber sicher nicht genieren, daß wir ihm zu nahe kämen, ihm deswegen Unwohlsein bereiteten. 100 Jahre Schamfrist reichen gewiß, auf daß wir jetzt neugierig und ungeniert der Bedeutung dieses zu Unrecht unterschätzten Künstlers nachspüren können. Die zitierte Einschätzung Philipp Spittas mag uns gleichwohl Beleg dafür sein, daß bei diesem Komponisten ein für seine Zeit untypisches Künstlerprofil zu konstatieren ist. Dem sei im folgenden nachgegangen.
Das 19.Jahrhundert prägte das bis heute gültige Leitbild des herausragenden, möglichst genialen Künstlers, der stets danach strebt, sich und sein Vermögen im vollen Selbstbewußtsein seiner Kräfte dem Publikum zu präsentieren. Viele große Komponisten dieser Zeit sind ursprünglich Klaviervirtuosen und als solche geborene Podiumskünstler. Ich nenne nur Frédéric Chopin, Franz Liszt, Johannes Brahms. Heinrich von Herzogenberg konnte zwar anständig Klavier spielen, war aber kein konzertierender Virtuose. Zunächst studierte er in Wien sogar (nur) Jura. Wenn er gleichwohl anfänglich viel Klaviermusik schrieb, so wurde das keine mitreißende Podiumsmusik im großen Gestus. Es sind Klavierstücke für den eher intimen Rahmen, stilistisch im Horizont der Tonsprache des verehrten Robert Schumann. Die erst in Leipzig veröffentlichten Klavierstücke, welche diesen Vortrag einrahmen, sind ein späteres Reifezeugnis für die Beherrschung dieser Gattung. Ihre Ausdruckssphäre ist eher der ersten Jahrhunderthälfte zuzuordnen, so daß sie diesbezüglich nicht besonders auffallen.
Und doch macht sich Heinrich von Herzogenberg in diesen Stücken auf für ihn eigentümliche Art persönlich bemerkbar: Die fünf Stücke beziehen sich mit der Tonartenfolge fis-Moll, h-Moll, D-Dur, fis-Moll, H-Dur auf die Akkordtöne des h-moll-Dreiklangs. Der allererste, alleinstehende Ton im Notturno ist ein H, und die linke Hand spielt sogleich harmonisch spannend zum eis-Vorhalt der Melodie ein h-moll-Arpeggio. Das zweite (zuletzt gehörte) Stück stellt in Haupt- und Seitensatz h-moll und H-Dur einander gegenüber, am Ziel der ersten Steigerung, der Scharnierstelle, erklingt zwei Takte lang im fortissimo demonstrativ nur dieser eine Ton: H. Das letzte Stück, die Romanze, ist eigentlich ein recht feierlicher H-Dur-Hymnus. - Zwischen h-moll und H-Dur also präsentiert sich Heinrich von Herzogenberg, der gerne mit H-H signiert. Das sind nicht unbedingt die bevorzugten „romantischen“ Tonarten, und vielleicht hängt der Eindruck einer gewissen Sprödigkeit bei den Zeitgenossen schon an dieser auch sonst konstatierbaren Bevorzugung von Kreuztonarten. Immerhin wußte Johannes Brahms offenbar von dieser Symbolik und platzierte die erste der Elisabeth von Herzogenberg gewidmeten Rhapsodien op.79 zwischen h-moll und H-Dur, die zweite in g-moll kadenziert gleich in der zweiten Sequenz überraschend nach H-Dur als Dominante zu e(wie Elisabeth)-Moll.
Tonartensymbolik wirkt im Horizont des 19.Jahrhunderts wohl eher als Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Gefragt ist jetzt doch unmittelbares Ausströmenlassen von inneren Empfindungen, von subjektiver Gestaltungskraft, künstlerisches Extrapolieren eigener Ideen und Werte! Was Herzogenberg anbelangt, gebe ich Ihnen dazu wieder eine Referenz seines Freundes Spitta aus demselben Zusammenhang:
„Es gibt gewiß keinen lebenden Künstler, der fester als er auf der breiten Grundlage ruhte, welche die gesammte deutsche Musik der Vergangenheit und Gegenwart zusammengefügt hat.“
Die Grundlage von Herzogenbergs Komponieren ist also weniger eine originelle schöpferische Potenz als vielmehr die produktive Aneignung der Tradition wie der zeitgenössischen Stiltendenzen. Heinrich von Herzogenberg ist alles andere als ein selbstbezogener Künstlertyp, auch allgemein menschlich nicht, er ist „einer der besten Menschen und gescheidtsten Musiker, die ich kenne“ - so Spitta an anderer Stelle. Er steht, wie wir gehört haben, „auf einer Höhe allgemeiner Bildung, welche allein die Ausgewähltesten seiner Kunstgenossen mit ihm teilen dürften“, das heißt, sein künstlerisches Gestalten bezieht sich konstitutionell auf allgemein geistige und konkret künstlerische Voraussetzungen, welche ihm als höchst gebildetem Menschen zu Gebote stehen. Ist es nicht ein Irrtum und eine letztlich kunst- und lebensfeindliche Hybris des romantischen Geniekultes zu postulieren, es gäbe ein gleichsam voraussetzungsloses künstlerisches Schaffen?
Zu Herzogenbergs erster Symphonie bemerkte 1885 ein Rezensent, das Werk sei eine einzige „Riesenreminiscenz“ an Brahms. Herzogenbergs Kommentar dazu:
„Im Grunde muß jedes Kunstwerk wenigstens in seinen Keimen eine Riesenreminiscenz sein (das Wort ist gut und neu). So ist doch alle moderne Musik bis heute noch eine Riesenreminiscenz an Beethoven.“
Herzogenberg weiß also ganz genau, was er tut, wenn er von den in seiner Grazer Zeit entstandenen Werken im Fahrwasser der neudeutschen Schule Abstand nimmt, wozu er außer der großen dramatischen Kantate Columbus und der Symphonie Odysseus übrigens auch das seinerzeit sehr populäre Deutsche Liederspiel rechnete (das am Sonntag auf dem Programm steht). Es ist auch keine Frage des eventuell nicht vorhandenen kompositorischen Vermögens, wenn er entschlossen auf die Schiene der klassischen Tradition einschwenkt. In einer von Bernd Wiechert aufgespürten handschriftlichen Lebensbeschreibung heißt es:
„Im Jahre 1872 siedelte ich nach Leipzig über und faßte dort unter mannigfaltiger Anregung meine Kräfte neu zusammen. In vertrautem Umgange mit Alfred Volkland, Franz von Holstein und etwas später Philipp Spitta fielen manche Schlacken von mir ab.“
Herzogenberg läßt sich sicher in stärkerem Maße als alle Komponisten-Kollegen seiner Zeit von anderen orientieren. Das kann aber nicht eo ipso als künstlerisches Defizit verbucht werden. Er ist ein „gescheidter Musiker“, weil er prinzipiell lernbereit ist, offen für Anregungen. Wer „gescheidte Musiker“ als solche abqualifiziert, zu „Akademikern“ stempelt, wie es mit den Lehrkräften der Berliner Hochschule geschah, zu denen ab 1885 auch Herzogenberg zählte, der sanktioniert eine bestimmte ästhetische Position als Urteilsinstanz. Wir sollten da vorsichtig sein, vollends in diesen Zeiten, wo der „kommunikative Typ“ Konjunktur hat. Heinrich von Herzogenberg pflegt den „vertrauten Umgang“ mit anderen, um durch ihre Anregungen die Substanz seines Schaffens zu verbreitern. Ein auf diese Weise gebildeter Künstler kann dann auch als Lehrer besser zur Bildung anderer beitragen als der genialische Künstlertyp. Von Herzogenbergs Wirken als Lehrer erhalten wir in diesen Tagen ja ebenfalls einen Eindruck. Namentlich der „vertraute Umgang“ mit der Engländerin Ethel Smyth als Privatschülerin in Leipzig ist als durchaus ungewöhnlich zu benennen, was den Herzogenbergs jetzt sogar ein wohlwollendes Interesse von seiten der Frauenforschung eingetragen hat.
Der Dialog mit den genannten Leipziger Freunden brachte Herzogenberg also zur Grundorientierung seines Schaffens an der klassischen Tradition. Dies war letztlich eine weltanschauliche Klärung seiner künstlerischen Haltung. Hinsichtlich der Gattungen erhält infolgedessen die Kammermusik ein starkes Gewicht und Herzogenberg schwenkt damit auf die von Johannes Brahms vorgezeichneten Bahnen ein. Unter Marketing-Gesichtspunkten betrachtet war das natürlich ein Fehler. Der 10 Jahre ältere Brahms hatte das Feld schon besetzt. Diese Betrachtungsweise wäre aber ebenso falsch wie jene, die mit dem Stempel Brahms-Epigone aufwartet, der in der üblichen Musikgeschichtsschreibung so schnell und leicht zur Hand ist. Wer darf denn vorgeben, daß nur das Erstmalige und strukturell Vorantreibende Gültigkeit haben kann, alles andere aber Epigonentum ist? Solch einliniges Fortschrittsdenken hat in der Kunst wie in der Naturwissenschaft fatale Konsequenzen gezeitigt.
Meine verehrten Damen und Herren, Sie haben auf diesem Musikfest die Chance zu erleben, wie künstlerisch ergiebig eine in bestem Sinne kommunikative Atmosphäre unter Kulturschaffenden sich auswirken kann. Dazu gehört, daß ein Komponist immer auch begeisterungsfähiger Rezipient der Musik anderer Meister in Gegenwart wie Vergangenheit bleibt. Und das waren Heinrich von Herzogenberg und seine Gattin Elisabeth stets, nicht nur in Bezug auf den verehrten Meister Johannes Brahms.
Ein für Herzogenberg ganz wesentliches und prägendes Metier wurde bisher noch nicht benannt. Es ist die intensive Beschäftigung mit dem Werk Johann Sebastian Bachs in den Leipziger Jahren. Heinrich von Herzogenberg ist meines Erachtens der bedeutendste Bach-Rezipient der zweiten Jahrhunderthälfte. Fast 10 Jahre lang leitete er als Chorleiter den zusammen mit den vorher genannten Leipzigern begründeten Bach-Verein. Hier stand er am meisten auf dem Podium - als Dirigent von Bachs Kantaten, Passionen und Oratorien, allerdings nicht im Konzertsaal vor jubelndem Publikum, sondern in der Leipziger Thomaskirche. Er beschäftigte sich nicht nur mit ganz praktischen Fragen der Chorerziehung und Intonation im Chorgesang, sondern auch mit Fragen der Aufführungspraxis und Herstellung von adäquatem Aufführungsmaterial, wobei hier der inzwischen in Berlin wirkende Philipp Spitta der Partner und Berater in allen Fragen war. Bei so einer breiten Bach-Grundlage ist fast verwunderlich, daß sich in der Kammermusik Herzogenbergs kaum Fugen finden. Aber diese Form des Nachahmens hat Herzogenberg nicht nötig. Er verarbeitet die empfangenen Eindrücke höchst sublim. Die Bachsche Prägung zeigt sich in der Kammermusik am ehesten in der reichen kombinatorischen Verbindung unterschiedlicher Stimmen. Dazu wiederum eine Taxierung Spittas:
„Er hat hier einen Grad der Meisterschaft erreicht, in dem er von keinem Lebenden übertroffen wird und die meisten weit hinter sich läßt.“
Erstaunlich ist eigentlich auch, daß Herzogenberg von dieser Beschäftigung mit Bach her nicht alsbald mit wehenden Fahnen zur Kirchenmusik übergelaufen ist. Es bedurfte dazu wiederum eines „vertrauten Umgangs“, einer besonderen kommunikativen Situation. Das war die intensive Begegnung mit Spittas Theologen-Bruder Friedrich im Sommer 1893. Zu diesem Zeitpunkt war die Leipziger Bach-Zeit bereits 8 Jahre lang abgeschlossen. Der Straßburger Theologieprofessor Spitta konnte Herzogenberg locken mit einem Lebenszusammenhang für die unmittelbare Einbindung von Chormusik, nämlich evangelische Gottesdienste und Musikaufführungen der Kirchenchöre in einer Gemeinde. In der liturgischen Reformkonzeption Friedrich Spittas war das dialogische Element strukturbildend: Gemeindegesang und Chorgesang, gesungenes und gesprochenes Wort in direktem Wechselspiel. Eben diese besondere kommunikative Konstellation für Musik motivierte Herzogenberg, relativ einfache Chormusik und ein geradezu volkstümliches Weihnachtsoratorium zu schreiben. Nach dessen Straßburger Uraufführung in St.Thomas schrieb er in einem Dankesgruß an Friedrich Spitta:
„Wenn ich des Augenblicks gedenke, als meine Musik durch die ganze Thomaskirche fluthete vom Altar zur Orgel und wieder zurück, geschwellt von dem unvergeßlichen Unisono der Gemeinde, dann erlebte ich eine Stunde, deren sich kein noch so beliebter Concert-Componist unserer Tage zu rühmen hätte.“
Für dieses sozusagen späte Glück konnte Johannes Brahms absolut kein Verständnis aufbringen. Auf die ihm zugesandte Partitur der Geburt Christi verweigerte er - wie schon öfters - eine Reaktion, äußerte sich Dritten gegenüber abschätzig und erlaubte sich dann sogar höhnische Bemerkungen zu Herzogenbergs neuen Theologen-Freunden, als er ihm seine betont „gottlosen“ Vier ernsten Gesänge ankündigte.
Es war jedoch alles andere als ein naiver Freudentaumel, der Herzogenberg nach dem kirchenmusikalischen Erfolg erfaßt hatte. Der eben zitierte Brief, geschrieben am 9.Januar 1895, also zwei Tage nach dem dritten Todestag seiner Frau, nimmt in der unmittelbaren Fortsetzung eine bezeichnende Wendung:
„So ist dieses Jahr 94 - trotz aller Schmerzen, die es zu den alten noch gebracht hat - ein für mich höchst denkwürdiges geworden. Hat der scharfe Pflug auch mein Erdreich in den Tiefsten aufgerissen, umso sicherer wurzelt jeder neue Saamen, der von echter Keimfähigkeit ist. In Schmerzen wird der Mensch geboren, und der Schmerz bleibt sein sicherster Freund, sein Erwecker, sein Erzieher.“
Von dieser beglückenden Uraufführung zurückgekehrt, hatte Herzogenberg zu seinem „schweren Gedenktage“, wie er berichtet, die doppelchörige Motette op.103,3 fertig gemacht, die Sie am Samstag hören werden: „Ist doch der Mensch gar wie Nichts...“. Als Überschrift setzte er „Dialog leidender und verklärter Seelen“. Die Leidenschromatik des ersten Chores ist gewiß an Bach-orientiert, doch die Formidee für einen solchen Dialog geht noch weiter zurück auf Heinrich Schütz, der den Schlußchor seiner Musikalischen Exequien ebenso gestaltet hat. Diese Motette, harmonisch und formal also eine ausgesprochene „Riesenreminiscenz“, bewegt sich ebenso wie das Weihnachtsoratorium zwischen h-moll und H-Dur, der Schlußklang steht in E(wie Elisabeth)-Dur.
„Der Schmerz bleibt sein sicherster Freund“ - das ist die gemeinsame Lebenserfahrung von Elisabeth und Heinrich von Herzogenberg. Sie haben diesbezüglich in ganz anderen Dimensionen ihr Leben zu bewältigen gehabt als etwa die „Kraftnatur“ Johannes Brahms. Es sind keine künstlerspezifischen Leiden wie der Wahnsinn Schumanns oder die Gemütskrankheit Bruckners, sondern ganz banale menschliche Übel: eine jahrelange Herzkrankheit bei Elisabeth, die schließlich zum frühen Tod führt und eine beharrliche Arthritis bei Heinrich, die ihn immer wieder hindert, seine Berliner Ämter auszuüben und im Jahre 1887 sogar die brutale Resektion einer Kniescheibe erzwingt.
Zum ureigenen menschlichen wie künstlerischen Profil der Herzogenbergs gehört die Art und Weise, wie sie diese Belastung bewältigen und verarbeiten. Clara Schumann schreibt in Bezug auf Herzogenbergs Leidensjahre 1887/88 an eine Freundin:
„Die armen Herzogenbergs sind aber merkwürdig ideale Menschen, die es beinahe verstehen, dem Unglück noch schöne Seiten abzugewinnen.“
Ich nehme an, daß gerade die Beschäftigung mit den geistlichen Werken Johann Sebastian Bachs dem Ehepaar Herzogenberg das Rüstzeug vermittelte für die „merkwürdig ideale“ Bewältigung dieses Geschicks. In einem Brief an Philipp Spitta im Oktober 1887 zitiert Elisabeth im Blick auf ihren kranken Gatten eine Liedstrophe Paul Gerhardts, die den Schluß der Motette op.102,2 bildet, die Sie gleichfalls am Samstag hören können. Diese Strophe kennen die Herzogenbergs sicherlich aus der vom Bach-Verein nachweislich aufgeführten Bach-Kantate BWV 103, wo der besonders eindringlich komponierte Schlußchoral ihren Text trägt:
„Ich hab dich einen Augenblick, o liebes Kind, verlassen.
Sieh aber, sieh, mit großem Glück und Trost ohn alle Maßen
will ich dir schon die Freudenkron aufsetzen und verehren.
Dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren.“
Es ist schon fast überflüssig zu erwähnen, daß (wie Bachs Schlußchoral) auch die Motette in op.102 in h-moll steht und der Schlußklang ein H-Dur-Akkord ist. „Dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren“, das ist nun die geistlich bewältigte, existentielle Dimension der Tonartenpolarität von h-moll und H-Dur.
Die Herzogenbergs waren offenbar fromme Menschen, welche im kindlichen Glauben an den Vater im Himmel bereit waren, ihr Geschick hinzunehmen in gläubiger Erwartung einer gütigen Wendung, und sei es erst im ewigen Leben. Es mag sein, daß der „treuherzige, volksthümliche Ton“, den Spitta bei Herzogenbergs Kompositionen allgemein auszumachen meint und mit seiner österreichischen Herkunft in Verbindung bringt, daß diese stellenweise unbekümmert wirkende Fröhlichkeit letztlich auch in dieser Frömmigkeit begründet liegt. Herzogenberg ist nicht wie Brahms einer, der mit seiner Kunst gerne problematisiert. Das ist aber keine Frage der kompositorischen Qualität, sondern der Lebenseinstellung. Im Unterschied zu Brahms bleibt Herzogenberg übrigens auch dem gleichfalls eigentümlich „frommen“ Joseph von Eichendorff als Lieblingsdichter zeitlebens treu.
In beeindruckender Weise explizit wird diese Frömmigkeit in den großen chorsinfonischen Werken, mit denen Herzogenberg jeweils auf den Tod seiner engsten Bezugspersonen reagiert. In den letzten Tagen des Trauerjahres für Elisabeth schreibt er über Weihnachten und Neujahr 1892 die „Todtenfeier“ auf selbst ausgewählte deutsche Bibeltexte und Choralstrophen. Wenige Wochen nach dem überraschenden Tod seines Intimus Philipp Spitta im April komponiert er eine große Messe in e-moll. Die Partituren dieser Werke waren bis vor wenigen Jahren verschollen. Bernd Wiechert hat als Mitglied des Mainzer Bachchores bewirken können, daß die e-moll-Messe nun bereits als CD-Einspielung vorliegt, und eine aufwendige Neuausgabe der Noten im Stuttgarter Carus-Verlag hat er soeben abgeschlossen. Ich selbst habe mit meinem Chor 1997 als bisher einziger die Totenfeier wieder aufgeführt.
Es existieren bewegende Briefe vom Mai 1894, in welchen Herzogenberg den Tod Spittas als zweiten großen persönlichen Verlust thematisiert. In einem Schreiben an Friedrich Spitta realisiert er, da auch seine Haushälterin Helene Hauptmann verreist war:
„Ich bin so allein, wie ich es noch gar nicht war, seit meine Frau mir entrissen wurde; da kann ich recht ermessen, woran ich eigentlich bin; diesem Gefühl ist nicht zu entrinnen und wenn ich die Welt umsegelte! In mir muß sich wieder etwas bilden, etwas Neues, Unerkanntes, das aber die Züge meiner beiden Todten tragen wird.“
Das Neue im Innern Heinrich von Herzogenbergs, das alsbald in Töne ausströmt, ist eine Souveränität und Zielstrebigkeit im Komponieren, die keine Zweifel und vorsichtigen Abwägungen mehr zu kennen scheint. Die dem Andenken Spittas gewidmete große e-Moll-Messe ist ein Wurf. Zur spannenden Frage, inwieweit nun tatsächlich in der Musik die „Züge der beiden Todten“ auszumachen sind, gebe ich Ihnen ein Klangbeispiel aus dieser Messe, den Beginn des Credo. Die Tonart ist E(wie Elisabeth)-Dur. Das fugierte Vokalthema beginnt in der Quinte, also mit dem Ton H - „ich glaube“. Satztechnischer Kunstgriff ist die Kontrapunktierung der folgenden Textstellen mit der Credo-Intonation, demonstrativ in den Raum gestellt vom Blechbläser-Apparat. Mit dieser Credo-Intonation beginnt auch das Credo von Bachs h-Moll-Messe, eine bewußte Riesenreminiscenz also und zugleich die Referenz an den Bach-Vermittler Spitta? Ehe ich den Credo-Beginn einspiele, zeige ich Ihnen noch die ersten Takte des Schlußsatzes aus dem Klavierquartett op.75, das unmittelbar nach Elisabeths Tod komponiert ist (und am Samstag abend hier auf dem Programm steht). Ungewöhnlich für einen Schlußsatz handelt es sich um ein Moderato mit hymnischen Zügen in E-Dur. Das Thema beginnt gleichfalls in der Quintlage mit H und zeigt einen ähnlichen Fluß wie das Vokalthema im späteren Credo.
Tonbeispiel e-moll-Klavierquartett, 4.Satz und Credo aus e-Moll-Messe.
Lassen Sie mich zum Schluß noch einen Blick auf die Todtenfeier werfen. Hier sind wir sogar in der für Herzogenbergs Schaffen einzigartigen Lage, daß sowohl das Kompositions-Particell als auch das Partitur-Manuskript erhalten ist. Das Komponieren gestaltet sich hier als ein bewußter und entscheidender Akt Trauerarbeit am Ende des Trauerjahres. Herzogenberg nimmt sich für den Entwurf nur eine Woche Zeit, vom 20. bis 27.Dezember 1892, also die Woche vor dem Geburtstag seines Freundes Philipp Spitta. Die 11 Tage danach bis zum ersten Todestag von Elisabeth am 7.Januar müssen reichen, um die Partitur zu erstellen. Auch die Todtenfeier steht tonartlich zwischen dem h-moll des Trauermarsches zu Beginn und dem H-Dur des Christuswortes: „Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.“ Und natürlich spielt auch die Tonart E-Dur wieder eine wichtige Rolle. Am 24.12. nun, am Heiligen Abend, komponiert Herzogenberg wiederum einen Satz über jene Paul-Gerhardt-Strophe „Ich hab dich eine kleine Zeit, o liebes Kind, verlassen“. (Herzogenberg zitiert offenbar aus dem Gedächtnis und schreibt statt Augenblick „eine kleine Zeit“, sicher beeinflußt vom Text des 5.Satzes im Brahms-Requiem!) Die Choralmelodie in h-moll erklingt als klanglich zurückhaltender cantus firmus nur in den Bläsern, die Streicher markieren zunächst pizzicato-Akkorde als klangliche Darstellung von Verlassenheit. Die Vokalstimmen sind motettisch frei gestaltet und zeichnen die Textworte feinfühlig nach. Das entscheidende Wort „Trost“ oder das Aufmerksamkeit fordernde „Sieh, aber sieh“ wird eindrücklich hervorgehoben. Trotz h-moll-cantus-firmus steht der Satz eigentlich in D-Dur und wendet sich am Schluß in einen H-Dur-Dreiklang: „...dein kurzes Leid soll sich in Freud und ewig Wohl verkehren!“ Nochmals hat sich da ein bezeichnender Textfehler eingeschlichen. Herzogenberg schreibt nämlich zuerst „dein kurzes Leid soll sich in Freud, o liebes Kind, verkehren!“ Offensichtlich ist seine persönliche Beziehung zu dieser Strophe wesentlich begründet in der Intimität dieser göttlichen Anrede zu Beginn: „o liebes Kind“. - Als Gotteskind weiß sich Heinrich von Herzogenberg in allem Leid und Schmerz geborgen. Auch das gehört zum spezifischen Profil dieses in manchem untypischen Künstlers des 19.Jahrhunderts.
Ich lade Sie nun ein, diesen Satz in der life-Aufnahme von unserer Aufführung als ganz persönliches Zeugnis Heinrich von Herzogenbergs mitzuhören. Wir wollen dann die drei verbleibenden Sätze der Klavierstücke op.25 direkt anschließen, denn sie stehen, wie gesagt, im selben Tonarten- und damit auch Ausdrucksspektrum: die Barcarole in D-Dur, die Gavotte in fis-moll und schließlich die Romanze in H-Dur. So können Sie Heinrich von Herzogenberg signieren hören, H-H.
 
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