Aktualisierte
Fassung (Juni2015) eines im Februar 2014 erschienen Artikels bei
«Chor und Konzert» bei VDKC Verband Deutscher
Konzert Chöre
Herzogenbergs Chormusik im
Kommen!
Fundus von Notenmaterial und Einspielungen erhält Zuwachs
Vor zehn Jahren sah es noch schlecht aus um die Präsenz des umfängliche
Oeuvres von Heinrich von Herzogenberg (1843-1900) im Bereich Chorsymphonik
sowie A cappella. Inzwischen hat sich einiges getan.
Zunächst beim Notenmaterial: Der Stuttgarter Carus-Verlag, zuvor schon am
meisten aktiv in Sachen Herzogenberg, hat mit finanziellem und fachlichem
Support der Internationalen Herzogenberg-Gesellschaft den A-cappella-Bestand komplett erschlossen in zwei Chorbüchern, die 2010 und 2011
erschienen:
Weltliche Chormusik a cappella
und mit Klavier, CV 4.102,
Geistliche Chormusik a cappella, CV 4.106. Zweimal ca. 200
Notenseiten plus kritischer Bericht plus detaillierte Ausführungen zu den
Entstehungsumständen der einzelnen Werke auf dem aktuellen Stand der
Forschung stellen so „Waffengleichheit" her im Wettstreit Herzogenbergs mit
seinem zehn Jahre älteren Freund und Idol Johannes Brahms zumindest
bezüglich der Notenbasis.
Ein editorischer Vorsprung kann sogar darin ausgemacht werden, dass eine
große, nur im Manuskript greifbare Motette „Mitten wir im Leben sind",
geschrieben als Reaktion auf die Brandkatastrophe im Wiener Ringtheater
1881, die Herzogenberg später in separaten Motetten teilweise weiter
verwertete, hier in ihrer Urgestalt greifbar ist, während bei Brahms etwa
die Vorstufen zur berühmten „Warum"-Motette selbst jüngst in einer
Neuedition keinen Eingang in die Sammelausgaben gefunden haben (Carus,
Bärenreiter). Mit dem deutschen Musikeditionspreis für den ersten Herzogenberg-Band wurde dieses Unternehmen auch vom einschlägigen
Fachverband gewürdigt.
Auch wenn Noten und Vorwort-Lesen eigentlich genügen müsste, um sich
Chormusik zu erschließen, ohne CD-Einspielung respektive Youtube-Auftritt
ist alle Musik heute chancenlos. Auch diesbezüglich ist Herzogenbergs
A-cappella-Chormusik im Kommen. Zunächst: Das Nischen–Label cpo ist seit
Jahren unermüdlich an Herzogenbergs Musik dran, zunächst mit Kammermusik,
dann mit den beiden Sinfonien, einer frühen sinfonische Dichtung und dem
Violinkonzert, jetzt auch mit einer Lieder-CD und der kompletten
Klaviermusik im Dreier-Pack. Chormusikeinspielungen auf professionellem
Niveau sind personell immer aufwändig. Cpo konnte Hermann Max und seine
Rheinische Kantorei gewinnen für eine gut bestückte Scheibe mit weltlichen
wie geistlichen Motetten (An Mutter Natur).
Die ersten sechs Chorlieder op. 10 auf klassische Lyrik sind drauf ebenso
wie die fünf- und sechsstimmigen Perlen der Sammlung op.57, die es spielend
mit den analog besetzten Werken von Brahms aufnehmen können. Im geistlichen
Bereich ist das von Bach inspirierte Meisterstück des vierstimmigen
Psalm 116
op.34 aufgenommen, von
den fünf als Gottesdienstmusik konzipierten Zyklen
Liturgische Gesänge die zum
Erntedank op.99 (außer der Choralkantate
Ich singe dir mit Herz und Mund mit Orgel) und dann die vier
satztechnisch strengen
Choralmotetten
op.102. Das repräsentiert das Spektrum im Standardbereich des vier- bis
sechsstimmigen A-cappella-Gesangs. Wie alles von Herzogenberg ist auch diese
CD bei jpc ziemlich billig zu haben, d.h. das Interesse dafür ist wohlfeil.
Dass 24 geschulte Stimmen und ein Bibliothekssaal als Aufnahmeort nicht
unbedingt die authentische „Atmosphäre" verbürgen von Chormusik für
bürgerliche Singvereins- oder kirchliche Chorhundertschaft, zudem der als
Alte Musik-Experte ausgewiesene Dirigent die Tempi bisweilen sehr zügig
nimmt, wird den Repertoirewert dieser Einspielung nicht schmälern.
Ein Konkurrenzunternehmen dazu ergab sich aus der Logik des Carus-Verlags,
den Notenausgaben eigene Muster-Einspielungen beizugesellen. Der Züricher
Chorleitungsprofessor Markus Utz war von sich aus, d.h. tatsächlich vom
Notenlesen her, auf den Herzogenberg-Geschmack gekommen. Im
ensemble cantissimo
arbeitet er ebenso mit professionellen Kräften in ziemlich kleiner
Besetzung. Nach Anfängen im frühbarocken Repertoire ist das stilistische
Spektrum hier inzwischen breit und integriert auch moderne Chormusik etwa
aus Skandinavien. In Sachen Herzogenberg wurden nun gleich drei CDs
konzipiert, welche nicht nur die Standard-a-cappella-Formation bedienen,
sondern gerade auch das für Herzogenberg so signifikante Agieren mit
vielfältigen Besetzungen und Sujets. So bringt gleich die erste CD (Wie
schön, hier zu verträumen Carus 83.451) eine Aneinanderreihung,
die man beim bloßen Lesen vielleicht als skurril taxieren wird. Beim Hören
allerdings tut sich eine fantastische Welt romantischen Chorgesangs mit
Klavierbegleitung auf. Drei Opusnummern betreffen nur Frauenstimmen,
heutzutage eigentlich „trendy", nämlich die dreistimmigen
Sechs Mädchenlieder
op.98 auf Texte
des ersten deutschen Nobelpreisträgers Paul Heyse, drei delikate
vierstimmige Chöre aus dem acht Nummern umfassenden op.26, darunter Mörikes
berühmte Untreue („Derweil ich
schlafend lag"), drei Kanons für drei Sopranstimmen auf Liebes-Skolien von
Goethe. Wenn man das in dieser feinsinnig gestalteten, genau ausgehörten
Wiedergabe erlebt, muss man einem Rezensenten aus dem Jahr 1903 entschieden
beipflichten: „Und angesichts derartiger Perlen hört man die Dirigenten der
Frauenchöre immer klagen, dass ihnen nur minderwertige Literatur zur
Verfügung steht!" – Diese CD bedient dann noch die im weltlichen Chorbuch
ebenfalls repräsentierte Gattung Solistenquartett (alternativ Chor) plus
Klavier mit dem Nachtlied
von
Hebbel aus op. 73 und den
Notturnos
op. 24, bestückt mit vier nachtschwärmerischen Eichendorff-Gedichten.
Romantischer im eigentlichen Wortsinn geht es nicht und Iris-Anna Deckert,
Ursula Eittinger, Andreas Weller und Manfred Bittner harmonieren als
Vokalquartett untereinander und mit Götz Payer am Klavier echt „traumhaft".
Wer davon Lust bekommt, das auch mal mit Chor zu machen, hat die analoge
Praxis bei vergleichbaren Brahms-Werken auf seiner Seite.
Die zweite CD lockt mit Mörike-Incipit
Frühling lässt sein blaues Band
(Carus 83.452), was in einem
herrlich pointierenden Eineinhalbminutenstück auch die Startnummer ist. Hier
ist mit den kompletten Zyklen op.10 und op.57 ein direkter
Interpretationsvergleich mit der cpo-Einspielung möglich. Zusätzlich gibt es
fünf der
Zwölf geistlichen Volkslieder
op. 28, die für Volksliedersätze teilweise ziemlich komplex
motettenartig gearbeitet sind, und sechs der zwölf altdeutschen Volkslieder
op.35, die demgegenüber schlichter sind und eher Chorliedstatus haben.
Gerade Chöre, die nicht prinzipiell dem geistlichen Repertoire verpflichtet
sind, können hier Anregung finden für Repertoireerweiterung. Und wenn es in
Richtung Weihnachten doch mal wieder ein bisschen geistlich werden darf, hat
der Carus-Verlag eine Einzelausgabe dazu mit den einschlägigen Titeln parat.
Das grandioseste Stück ist die Schlussnummer der CD, das sechsstimmige
Weihnachtslied („Kommst du, kommst du, Licht der Heiden"). Das
müsste eigentlich Rheinbergers
Abendlied
den Rang streitig machen als most wanted in Sachen Sechsstimmigkeit. Philipp
Spitta, der dies zum Geburtstag am 27.12.1888 erhielt, hatte durchaus recht:
„Ich weiß wohl, was Brahms mag und was er bedeutet, aber so etwas kann er
doch nicht." Auch das Schwesterwerk, eine fünfstimmige Fassung des
Rückert-Gedichtes
An Mutter Natur
op. 57,1 sucht seinesgleichen und sei als Geheimtipp für das nächste
Rückert-Jahr 2016 (150. Todestag) in Stellung gebracht. Herzogenbergs
Leidenschaft für reine Terzen im Chorgesang ist hier förmlich auskomponiert
und war Markus Utz und seinem Ensemble offensichtlich alles andere als
fremd. Solche Reinheit ist ein Chormusik-Ereignis!
Bei
der dritten Carus-CD erst kommt der eher bekannte geistliche, respektive
liturgische Herzogenberg zum Zug. Hier wurden weitere Überschneidungen mit
der cpo-Produktion vermieden. So gibt es Auszüge aus den gottesdienstbezogen
knapp, aber prächtig gestalteten
Liturgischen Gesängen zu Advent (fast vollständig), zu Epiphanias
und zur Passion. Neben wieder faszinierender Sechsstimmigkeit sind hier mit
dem Kurz-Magnificat im Adventszyklus und der Sanctus-Paraphrase im
Epiphaniaszyklus auch zwei Highlights in Sachen Achtstimmigkeit zu
verbuchen. Die fast vollständig aufgenommenen, einfacheren vierstimmigen
Totensonntags-Gesänge op. 99 passen in jedes „ernste" A-cappella-Programm.
Mit den vier sehr unterschiedlich gestalteten Motetten op.103 schließt sich
dann sowohl in Sachen Noten als auch in Sachen Einspielung eine
Repertoirelücke. Während der ergreifende doppelchörige „Dialog leidender und
verklärter Seelen" in einer Bärenreiter-Ausgabe W. Ehmanns schon lange
greifbar war, kommt nun ein faszinierender fünfstimmiger „Pfingstchor" neu
ans Licht („Komm, Heiliger Geist"), der als entschiedenes Plädoyer für
Ökumene verstanden sein will. Und am Ende steht eine achtstimmige Festmusik
„Wohl dem, der den Herren fürchtet", welche die
Fest- und Gedenksprüche von Brahms
gleichsam überhöht. Dabei war der Anlass nur ein privater, die
Silberhochzeit des Leipziger Jura-Professors Adolf Wach mit Lili, geb.
Mendelssohn Bartholdy. Diese Achtstimmigkeit stellt sich bewusst dem
Anspruch, der eben mit den Namen Brahms wie Mendelssohn errichtet war. – Die
drei Carus-CDs sind auch kompakt im Schuber zu haben.
Gut, dass bei den Einspielungen noch Lücken geblieben sind, z.B. die aus dem
Manuskript gehobene „Katastrophen-Motette" zum Wiener Ringtheaterbrand.
Wenigstens eines der großen A-cappella-Stücke sollte auch mal mit
authentischem großem Chor aufgenommen werden. In Sachen Chorsymphonik ist da
der nächste Schritt schon gemacht: cpo hat nach dem Erstling der großen e-Moll-Messe
mit dem Mainzer Bachchor 1997 jetzt auch
Requiem op.71,
Totenfeier
op.80 und Begräbnisgesang op.88
mit dem Monteverdi-Chor Würzburg herausgebracht. Der zwischen Mozart, Brahms
und Verdi festgefahrene Requiem-Kanon kann eine Verbreiterung doch gewiss
gebrauchen! In diesem Genre können aber noch Einspielungs-Lücken gefüllt
werden: das Opus maximum
Erntefeier
op.104, die beiden grandiosen symphonischen Psalmen
Psalm 94 op.60 (mit zwei Chören!)
und Königspsalm op.72 und im
weltlichen Bereich die wiederum traumhafte
Weihe der Nacht op.56. Wenigstens gibt es bei diesen Stücken
allen Live-Aufnahmen von Aufführungen in den letzten Jahren. Niemand kann
also mehr behaupten, zu Herzogenbergs Chorschaffen gebe es keinen Zugang!
Und man kann eigentlich nur in die Chorlandschaften hinein rufen: „Greifet
zu!“
Konrad Klek, Verein Internationale
Herzogenberg-Gesellschaft
27.02.2014/24.06.2015
Informationen zu den CDs des
ensemble cantissimo
Das
ensemble cantissimo feiert 20jähriges Bestehen
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