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Das tote Haus am Bodensee
Eine Reiseerinnerung von Ernst von Wildenbruch
Niemand hat ihn mit Augen gesehen - dennoch wissen wir, er ist da; keines Menschen Ohr hat seinen Schritt gehört - dennoch wissen wir, dass er umgeht unter den Lebendigen, zwischen ihren Häusern und in die Häuser hinein, durch die plaudernden Gruppen auf den Strassen hindurch, und neben dem Wanderer im einsamen Feld, er, dessen Namen der Lebendige nicht gern ausspricht, den die Kranken Freund, die Verzweifelten Erlöser, die Gefundenen Räuber und Zerstörer nennen, der düstere Zwillingsbruder des Lebens, der Tod.
Unsichtbar für unsere Augen, unvernehmbar für unser Ohr, verraten uns seine Taten sein Vorhandensein; an der Oede, die plötzlich eintritt, wo vorher Stimmen waren, Geräusch des Daseins und Musik des Lebens, erkennen wir seine Spur. Wenn wir in den Wald kommen und den Baumriesen zu Boden geschmettert sehen, der gestern noch mit dem Wipfel nach den Wolken griff, so wissen wir, hier ist er hindurchgegangen; wenn wir einen, der heute noch auf der Strasse des Lebens neben uns herging, lautlos zur Seite treten und grau im grauen Nebel verdämmern sehen, so blicken wir, die wir weiterwandern, ihm schweigend nach: den hat er an der Hand genommen, und er hat mit gemusst; und wenn wir an die Stätte kommen, wo einstmals einer gewohnt hat, den wir kannten, der uns lieb und wert war, und die Stätte ist leer, aus dem Hause tönt uns kein Willkommen, aus den Fenstern blickt kein Gesicht, winkt keine Hand, sondern die Vorhänge sind niedergelassen, oder dass es aussieht, als hätte das Haus keinen Mund und keine Augen mehr, als wäre es stumm und taub und blind, dann wissen wir, dass er hier hineingetreten ist, der Unsichtbare, dass er das Feuer aus dem Herde gelöscht, die Schlüssel an sich genommen hat, und dass die Hand, die uns einstmals geöffnet, nie mehr die Tür erschliessen wird.
Wer, der so alt geworden ist wie ich, hätte nicht manchmal Taten von ihm zu verzeichnen, seinen Spuren nachzugehen gehabt? In der Heimat habe ich die Wirkung seines Tuns beobachtet und in der Fremde, in dem Lande, wo die Menschen mit den schämigen Herzen, die Deutschen wohnen, die ihr Fühlen und Leiden im stillen Kämmerlein verstecken, und draussen, zum Beispiel in Sizilien, wo die Menschen das Bedürfnis haben, ihr Gefühl wie ein Kleid zu tragen und der Welt durch Zeichen zu verstehen zu geben: "Ich leide - leidet mit mir!" So in Girgenti, wo ich an der Tür eines mitten in der alten Tempelreihe gelegenen Hauses einen mächtigen schwarzen Krepp angenagelt sah, der den Vorübergehenden belehrte, dass der Padrone di casa, der Hausherr, nun auch den Weg gegangen war, den Tausende von Jahren vor ihm die braunen Tempel und die Menschen gegangen waren, die einstmals in den Tempeln zu Göttern gebetet hatten. So in Taormina, wo der Trauerflor an einem buntbemalten sizilianischen Karren verkündete, dass der Bauer, dem der Karren gehörte, gestorben war, und wo sogar der Mulo, der Maulesel, der den Karren zog, mit einem langwallenden schwarzen Flor um den dahingegangenen Gebieter trauerte.
Und jetzt, in der allerjüngsten Zeit, in einem Lande, das weder Deutschland noch Italien ist, sondern mitten inne zwischen beiden liegt, in der Schweiz, habe ich wieder an einer Stätte gestanden, wo einer gewohnt hat, der mir lieb und wert war, der nicht mehr dort wohnt, nie mehr dahin zurückkehren wird, und das stumme, blinde Haus mit den holzverschlagenen Fenstern, dem verwilderten Garten, in dem ein einziges, letztes Geräusch des Lebens sich regte, das leise Murmeln des immer rinnenden Brunnens, hat mir eindringlicher wehmütiger gepredigt, als seinerzeit der schwarze Krepp an der Haustür, dass die Menschen, wenn sie abgeblüht haben, nicht wiederkehren, wie die Blumen es tun.
Das Haus, vom dem ich spreche, steht über dem Bodensee auf schweizer Seite, so dass man von seiner Schwelle hinunterblickt auf den Spiegel des Sees, das gegenüberliegende Gelände und das auf dem Wasser schwimmende Lindau, im Lande Appenzell, da, wo dieses zwischen Rorschach und der Talebene des Rheins sich wie ein grosses, weitgebauschtes Kissen von grünem Sammet emporwulstet. Auf der Höhe des Wulstes liegt ein freundlicher Ort, der heisst Heiden, und wenn man durch die Gassen dieses Ortes hinausgeht, bis dahin, wo die Strasse nach Rorschach hinunterbiegt, kommt man an ein einsames Haus, vor dem man stehen bleibt, weil es anders aussieht als die anderen Häuser. Denn seitdem in den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts das alte Heiden abgebrannt, ist ein neues entstanden, mit modernen, schweizerischen Häusern, die wohl sauber und heiter, für meine Empfindung aber ohne rechte Individualität sind, weil sie zu viel Fenster haben, einen internationalen, mehr oder weniger französischen Charakter aufweisen, wie denn auch das Brot, das man daselbst zu essen bekommt, an das für meinen deutschen Gaumen schreckliche, schwammige französische Weissbrod erinnert. Da draussen aber, am Rorschacher Wege, das einsame Haus, wenn man davor steht, fragt man sich, wer mag das hier erbaut, das hier bewohnt haben? Aus dem Grundstock eines gewöhnlichen schweizer Bauernhauses ist ein Gebäude herausgewachsen, einfach zwar von Holz, mit Schindeln bekleidet, wie die anderen, aber dennoch so anders, ganz anders als die übrigen.
Die Wände des Hauses in symmetrischer Abmessung von Fenstern durchbrochen; über den Fenstern, wie Wimpern über schönen Augen, lang und schlank ausladende Fensterdächer. Die Eingangspforte mit dickem, schweren Rankengrün umsponnen, und von Grün umrankt auch die Söller, die sich an der Mittagsseite des Hauses in zwei Stockwerken übereinander aufbauen. Ein Haus, das in dem sammetgrünen, von Milchduft, Kuhgeruch, Gesundheitsbrodem überwölbten Lande so seltsam, beinah fremdartig dasteht, als wäre es wie ein Sternkristall aus einer höheren Luftschicht, aus dem Aether der Kunst herabgeflockt und hier zur Erde gekommen. Eine Künstlerseele - das fühlt man - muss diese Stätte zum Wohnort erkoren, eine Künstlerhand dieses Haus ersonnen und ausgebaut haben. Und ein solcher Mensch ist es denn auch gewesen, der hier gehaust hat, ein Schmetterling aus dem Lande, wo geheimnisvolle Blumen der Kunst blühen, der, nachdem er lange unschlüssig wählend über der Erde umhergeflattert war, an diesem Erdenfleck sich niedergelassen und angesogen hat, um hier zu bleiben bis zu seinem letzten Tage, Heinrich von Herzogenberg.
Indem ich den Namen niederschreibe, ist mir, als erschiene mir ein Gesicht; tiefe grosse, leidvolle Augen, von länglich gezogenen, hageren Zügen umrahmt, ein Gesicht, das sich zu mir wendet, als hätte mein stummer Gedanke es gerufen und geweckt, mit so langsamer, mühevoller Wendung, wie Menschen es tun, die den Kopf nicht mehr frei auf dem Halse bewegen können, sondern, wenn sie sich zu uns wenden wollen, den ganzen Oberleib herumzudrehen gezwungen sind. Das ist eine Erscheinung, wie ich ihn zuletzt gesehen, das Bild seines Zustandes, in den ihn die furchtbare nervenzerschneidende Operation versetzt hatte, die vom Arzte an ihm vorgenommen worden war; und indem dieses Gesicht, dieses Bild langsam vor mir ausdämmert, ist mir, als stände ein Wort darunter geschrieben, eine Bezeichnung, ein Titel, und indem ich es entziffere, lese ich das Wort "Tragödie".
Denn was bedeutet Tragödie anderes, als den Kampf von etwas Edlem gegen übermächtige Gewalten? Als Unterliegen, in dem wir, die Zuschauer, uns mit unterliegen fühlen, gehoben und gestärkt durch das Bewusstsein, dass der Held der Tragödie es ist, der uns den Untergang abnimmt, indem er für uns das grosse Leid erträgt?
Wer dem Leben Heinrich von Herzogenberg zugesehen, hat eine Tragödie mit angeschaut, die so viel Akte hatte, wie dieses Leben Jahre, einen Kampf, der äusserlich in dem verbogenen, verkrümmten, gelähmten Körper zu Tage trat, nach innen aber lautlos in einer lautlos stolzen, verlangenden und nie erlangenden, gequälten Seele rang.
Der Gegner, der ihm gegenüber stand und schliesslich stärker war als er, wie er schliesslich stärker ist als alles, was von Mutterleibe kommt, war der, von dem ich gesprochen habe, der Unsichtbare, Schreckliche, den andere Kranke Freund und Erlöser nennen, den dieser Kranke aber Feind und Verderber nannte, weil er die Seele ihm lähmen wollte, die feurig, schlank und jung in dem kalten, verkrümmten, vermorschten Leibe blühte, den er von sich hielt und von sich fort stiess mit aller Kraft des Willens, bis er das vollbracht haben würde, was zu vollbringen er sich sehnte, eine grosse künstlerische Tat, ein bleibendes Werk der Musik. Ob er dahin gegangen ist mit Hinterlassung eines solchen, ihn und die Zeit überlebenden Werkes? Ich bin kein Musiker, weiss es nicht, kann es nicht beurteilen. Aber wenn ich an seine Persönlichkeit zurückdenke, den Ausdruck seines Gesichtes, an die Worte, die ich hier und da von ihm gehört, die gelegentlich wie Späne aus einem Hammerwerke aus ihm herausflogen und den eisernen Kampf verrieten, der da drinnen hämmerte und stampfte, dann will eine Ahnung mir sagen, dass er nicht mit der gelassenen Ruhe dessen, der ein Lebenswerk hinter sich vollbracht weiss, sondern dass er mit einem "Ich bin noch nicht fertig; noch nicht!" in die Arme gesunken ist, die sich um ihn schlossen, um ihn dahin zu tragen, wo "Musik ist in den ewigen Sphären".
Ein hartnäckig unerbittlicher Gegner war es, der ihm gegenüberstand. Und dass er die Hand auf ihn legte, ihn Jahre vor dem Sterben mit den Stempel zeichnete, der ihn als seine Beute bezeichnete, dass er ihn als halbtoten Mann in das Haus am Bodensee, in das Land des trotzenden, grünen Lebens einziehen liess, war noch nicht das Schlimmste, was er an ihm tat. Etwas Böseres verbrach er an ihm, etwas Grausameres, indem er ihn einsam machte, ein Wesen von seiner Seite riss, eine Frau, diesem Manne die Frau nahm, die neben ihm hergegangen war, als seine Helferin in körperlichen Nöten, seine Teilnehmerin an Gedanken und Entwürfen, seine Begleiterin auf dem Klavier, seine zweite musikalische Seele, ein Geschöpf von solcher Holdseligkeit der äusseren Erscheinung, solcher Lieblichkeit und Liebenswürdigkeit an Seele und Gemüt, dass ihr körperliches und geistiges Bild unvergessen und unvergesslich in der Erinnerung aller fortlebt, die sie jemals gesehen, ihrem reizenden hannöverisch-deutschen Sprechen jemals gelauscht haben.
Solch ein völlig ineinander verschlungenes Zusammenleben von Mann und Frau, das sich mit Gedanken, Empfindungen, Wünschen und Bedürfnissen wie ein edles Blütengewinde um den Lebensbaum rankte, der gemeinsam zwischen beiden stand, wer es mit angesehen hat, wie muss der den Kopf schütteln zu dem heutigen, neurasthenischen Geschwätz,
das in der Ehe nichts weiter sehen will als eine Verkrüppelungsanstalt für die Frau; das der Frau verbieten will, im Gatten aufzugehen, weil die Frau sich nicht ausbeuten lassen dürfe vom Manne, ihm gegenüber vielmehr ihre Individualität zu behaupten habe, als Gleiche gegenüber Gleichen. Ganz aufgegangen in aufopfernder Betätigung für den geliebten Mann ist die Frau, von der ich spreche, die schöne edle, ganz weibliche Frau, und nicht ein Atom von ihrer Persönlichkeit, nicht einen Funken ihres Geistes hat sie dabei eingebüsst. Eines freilich war vorhanden und muss vorhanden sein, wenn Ehe zur Ehe, zur ergänzenden Gemeinschaft der Geschlechter werden soll: ein Lebensbaum muss zwischen den beiden stehen, der mit dem Wipfel über den Alltag hinaus in eine höhere Atmosphäre hinaufweiset, den Mann und Frau gemeinsam begiessen, hegen und pflegen, und an dem sie gemeinsam emporwachsen können.
Und an diesen Baum trat nun der Feind, der unerbittliche, heran, mit der eisernen Faust griff er in das Blütengewinde, und indem er die eine Kante herabriss, verwundete er die andere bis ins Herz.
Wer diese beiden Menschen nebeneinander gesehen und gekannt hat, die Verkörperung des blühenden Lebens neben dem leibhaftigen Abbilde des leidenden Siechtums, der muss es, neben der Härte, wie einen grausamen Hohn des Schicksals empfinden, dass diese Frau ihrem Manne vorangehen musste in den Tod. Unvergesslich ist mir das Wort, das ich einstmals von ihrem Munde hörte: "Beinahe schäme ich mich manchmal meiner Gesundheit, wenn ich das Leiden an meiner Seite, meinen armen Mann ansehe." Und plötzlich sollte sie keinen Anlass mehr haben, sich zu schämen; ein Herzschlag traf das liebreiche Herz, und die anmutige Frau war dahin.
Warum ich ihrer so lebhaft gedenken musste, als ich vor dem toten Hause stand? Weil die hoffenden Gedanken der beiden Menschen sich an dieses Haus geklammert hatten, als ein letztes, für beide zu erreichendes Asyl; weil mir, als ich davor stand, die Verse Heinrich von Kleists ins Gedächtnis kamen, die herrlichen, mit denen er seine Penthesilea schliesst
Die abgestorbene Eiche steht im Sturm,
Doch die gesunde stürzt er schmetternd nieder,
Weil er in ihre Krone greifen kann.
Denn nur einem von ihnen sollte zu teil werden, was sie für sich beide ersonnen und erhofft hatten, und dieser war der Kranke, an dem der Sturm vorüberging, während er die gesunde Eiche darnieder warf. Fernher aus Berlin, wo sie wohnten und lebten, waren sie an die lachenden Ufer des Bodensees hinuntergezogen, im Schweizerhof zu Heiden hatten sie Quartier genommen, und von dort, an einem Sommer-Sonnenmorgen, waren sie, Hand in Hand hinausgegangen dahin, wo der Rorschach Weg hinunterbiegt, und hatten gemeinsam den Kern gepflanzt, aus dem ihre Hoffnung erblühen sollte, den Grundstein zu ihrem Hause gelegt. Einmal noch hatten ihre Herzen in einer gemeinschaftlichen Sehnsucht geschlagen, einmal noch hatte die Zukunft ihnen beiden verheissend in die Augen gelacht - dann als der Kern in Blüte gegangen, das Haus errichtet war, zog ein einsamer, gebeugter Mann hinein und alles, was er von der anderen mit sich nahm in die neue Behausung, war die Erinnerung und ein von Hildebrand geschaffenes, schönes Reliefbild, in dem sie, in Farben, als heilige Cäcilie an der Orgel, im blauen Gewande, mit blond herabflutendem Haare dargestellt war.
Dort hat er dann noch jahrelang - gesessen - in des Wortes buchstäblicher Bedeutung; denn die Krankheit schritt fort und lähmte ihn schliesslich derartig, dass er kein Glied mehr rühren konnte - von treuen, freundlichen Frauenhänden besorgt, aber nicht von jenen, die einstmals auf dem Klavier neben ihm hergeflogen waren und ihm seine Kompositionen, noch feucht von der Niederschrift, vorgespielt hatten. Dorthin ist dann auch er seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts nicht mehr zurückgekehrt. Im Herbst 1900, in Wiesbaden, fern von Berlin und dem Bodensee, von den Orten, wo er gewirkt und wo er genossen hatte, hat die ringende Seele ausgerungen, und Heinrich, sowie Elisabeth von Herzogenberg, beide sind sie dahin.
Ja - dahin. Kinder von ihnen sind nicht vorhanden, die das Seelenfeuer der Eltern, wenn auch vielleicht in kleinere Flammen zerteilt, weitertragen könnten. Erben sind da - aber sie haben die hölzernen Fensterläden geschlossen, die Söller mit dem Blick ins herrliche Land mit Brettern vernagelt; der Garten verwildert, und das aus feinstem, individuellstem Schönheits- und Lebensgefühl hervorgegangene Haus wartet des Käufers Irgendwer, der vom Lande Irgendwo her kommen soll, um es zu kaufen.
Einem Gastwirte im Orte Heiden sind die Schlüssel anvertraut. Von diesem habe ich sie mir geben lassen, und in Begleitung meiner Frau bin ich hineingegangen in das stumme, blinde, das gespenstische Haus. Es war eine Wanderung, schaurig und ergreifend, merkwürdig, wie ich keine je im Leben gemacht habe.
Aus hell-lichtem Tage eintretend, umfing uns rabenschwarze Nacht, so dass wir im Hausflur ein Streichholz anzünden und bei dessen Schein ein Petroleumlämpchen suche mussten, das auf dem Lampentische im Flur stand. Mit dieser dürftigen Leuchte versehen, wie Wanderer, die sich Katakomben entlang tasten, gingen wir alsdann von Zimmer zu Zimmer, durch beide Stockwerke des Hauses. Und nun, als wenn man in der Katakombe plötzlich und unvermutet in die Züge eines Gesichtes blickte, das uns lautlos aus dem Dunkel ansieht, beim Schein des Lämpchens in unserer Hand aufblickend und aus dem Schlafe aufwachend, die vollständig erhaltene Ausstattung eines wohnlichst eingerichteten Hauses, Betten, Tische, Schränke und Stühle, alles modernste Rüstzeug für moderne Bedürfnisse, elektrische Klingelleitung, Badestube und Badeapparat, alles so vorhanden, so zum Gebrauche fertig und einladend, dass man das Gefühl bekam, als träte man unter eine Schar von treuen Haustieren, die des heimkehrenden Gebieters warteten, dass man unwillkürlich behutsam auftrat und leise sprach, weil man sich als Fremder, beinahe als Eindringling empfand, der kein Recht hatte, das Geräusch des Lebens hervorzubringen, das nur der Hausherr hätte erwecken dürfen. Türen und Wände, Fussböden und Decken, der ganze umgebene Rahmen für die Möbel, die der Rahmen umschloss, von blassem, hellem, poliertem Tannenholz, dabei alles so zueinander passend, in Farbe, Gestalt und Charakter miteinander übereinstimmend, dass man wie vor einem einheitlich geschlossenen, aus der Harmonie selbst geborenen Gedanken bewundernd vor dem Ganzen stand. Im Speisezimmer, um den grossen, gastlichen Tisch noch die Stühle gestellt, an der Wand des Speisezimmers eine Kredenz mit grossgeblümten, freundlich lachendem Porzellan. Im Salon darüber, die Wände ringsherum noch mit Bildern geschmückt; lauter Nachbildungen grosser Italiener. Im Zimmer daneben, auf einem Bücherbrett, noch die Bücher, darunter ein ganzer Stoss von Heften der "Deutschen Rundschau", abschliessend mit dem Septemberhefte von 1899, dem letzten Monat, den er in seinem Bodensee-Hause verbracht hat.
Überall Zeichen und Spuren eines, trotz Leiden und Lähmung rastlosen, geistigen Arbeitens, eines ununterbrochenen Verkehrs mit dem Geistesleben der grossen Welt; überall die Merkmale einer Natur, die mit allen Fäden und Fasern am Geistigen hing, mit allen Poren Schönheit in sich zog, deren Lebensatem Kunst und immer nur edelste Kunst war.
Schweigend, indem wir dieses alles sahen, dies alles durchmusterten, dies reiche, tiefe, von der öden Stille des Grabes bedeckte Lebensfülle, blickten wir uns in die Augen, meine Frau und ich: "Meine Seele! Welch ein Mensch!" und es war uns, als umhauchte uns der hinterlassene Duft einer Blume, die einmal geblüht hatte und deren Stätte auf Erden nicht mehr ist.
Tränen kamen uns in die Augen; wir erinnerten uns, wie manchmal dieser Mann, als er noch lebte, uns aufgefordert hatte, ihn in Heiden zu besuchen, und wir glaubten ein vorwurfsvoll flüsternde Stimme zu vernehmen: "Warum kommt ihr jetzt, da es zu spät ist?"
Vorsichtig, wie wir hinaufgestiegen waren, gingen wir die Treppe von Tannenholz wieder hinab, löschten unsere Lampen und schlossen die Tür. Knirschend drehte sich der Schlüssel im Schloss hinter uns; da drinnen war jetzt wieder lichtloses Dunkel, das Haus wurde wieder zum Grab, und was in dem Hause war, sank zurück in regungslosen Todesschlaf. Im Garten, von dem der Blick hinaus und hinuntergeht in das smaragdgrüne Land, auf den leuchtenden Spiegel des Sees, blieben wir stehen. Ein Regensturm war hernieder gegangen, während wir in der Dunkelheit umhertappten; Wolken trieben, und über dem Bodensee, wie ein grollendes Geheimnis, lag düstere Nacht.
Geheimnis - und was uns da drinnen wie ein Schattenbild erschienen war, wie das Aufleuchten eines unbekannten Landes, das ein Blitz erhellt, das Seelenleben des merkwürdigen Mannes, hatte er es nicht auch wie ein Geheimnis mit sich genommen, ein unausgesprochenes, über das seine Freunde nachdenken und sinnen, ohne doch zu einem festen Ergebnis zu gelangen? Denn wer hat hineingeblickt in die Vorgänge, die sich in dieser Seele, dieser ehrgeizigen, abgespielt haben mögen, wenn sie sich zürnend, anklagend, verzweifelnd gegen das Schicksal, den Kerkermeister erhob, der sie eingesperrt und gekettet hatte, dass sie nicht hinaus konnte zum höchsten Flug? Wer sagt uns, wie es in einem Menschen aussehen mag, dessen Geist durch alle Weiten, Höhen und Tiefen des Welt alles stürmt, während sein Körper so in den Stuhl gebannt sitzt, dass sogar die Nahrung von fremden Händen zum Mund geführt werden muss? Aufzeichnungen hat er nicht hinterlassen, soviel ich weiss, und das begreift sich; denn er war ein Künstler, und echte Künstler schreiben keine Tagebücher - in ihren Werken malen sie das Bild ihrer Seele. Und da eben liegt es - die ganz grossen Meister, die ganz gewaltigen Errichter künstlerischer Lebenswerke hinterlassen kein Geheimnis. Ihr Wirken und Schaffen liegt wie ein ausgebreitetes Land vor unseren Augen, in dem wohl Höhen und Tiefen, vielleicht auch Abgründe sind, über dem aber der Geist wie eine grosse Sonne leuchtet, durch welche die gestaltende Kraft eine breite, mächtige, vorwärts stürmende Linie zieht, einen Weg, auf dem sich der Beschauer immer wieder zurechtfindet. Das Leben solcher Grosser studiert man - man grübelt darüber nicht nach. Anders dagegen bei denen, bei denen Schaffenslust nicht immer gleichbedeutend mit Schaffenskraft, und Schaffenskraft nicht immer gleichbedeutend mit gestaltender Kraft ist.
Über dem Landschaftsbild, das ihr Wirken und Leben darstellt, liegen Schatten und Dunkelheiten, in denen sich der Beschauer grübelnd verliert, und statt des mächtigen, geradeaus führenden Wegstranges, der bei jenen hindurchführt, laufen die Wege in ihrem Lande oftmals die Kreuz und die Quer. Das sind die Menschen, die ein Geheimnis hinterlassen, ein ernstes, ein schweres. Denn wer sich jemals mit Kunst und Künstlertum beschäftigt hat, weiss, dass es kaum ein rätselvolleres Geheimnis gibt, als das Missverhältnis zwischen künstlerischem Empfindungs- und Gestaltungsvermögen, zwischen künstlerischem Wollen und Vollbringen. Weil es eine alltägliche Erscheinung ist, gehen wir daran wie an etwas Alltäglichem vorüber, beinahe mit spöttisch verächtlichem Lächeln; und doch sollte wir nicht lächeln; denn tiefes Missverhältnis bedeutet einen Riss in Menschenseelen, und in der Tiefe, zu welcher der Riss hinabführt, wühlen Schmerzen, die schlimmer weh tun als leiblicher Hunger und Durst.
Solche Gedanken lagen über mir, als wenn sie sich nicht losreissen könnten, kehrten meine Gedanken zu dem Hause zurück, dem Hause "zum Abendrot", wie der Erbauer es bezeichnender Weise getauft hatte, und da fiel mir ein, dass ich dort etwas gelesen hatte, einen Spruch der am Kopfende einer hölzernen Bettstatt eingegraben war:
Ob er das für sich selbst geschrieben hatte? Oder für die, welche mit ihm hatten wohnen sollen im "Abendrot"? Ob das Bett sein Bett war? Ob er darin geruht und geschlafen, manchmal auch schlaflos gelegen hat? Ich weiss es nicht; aber mir war, als hätte ich einen Grabspruch gelesen.
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