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Aus der Biographie der von Herzogenbergs ist bekannt, dass beide öfter an die Riviera gereist waren, um im Winter dem kalten Norden zu entfliehen und im heilsamen Reizklima der Mittelmeerküste „zwischen Bergen und Meer“ Linderung und Heilung zu finden. Im Februar 1889 war man nach einer Knieoperation Heinrichs und seiner über sieben Monate dauernden Bettlägerigkeit nach einer Kur in Wildbad über Florenz in das französische Nizza gereist, auch um Elisabeths Herzbeschwerden zu lindern. Aus dem gleichen Grund suchte man im November 1891 wenige Kilometer weiter östlich ein Quartier im italienischen San Remo. Uns war ebenfalls bekannt, dass für viele Heilung suchende Adlige aus Deutschland und England die berühmten Küstenfriedhöfe von Nizza, Menton und San Remo zur letzten Station ihrer Lebensreise geworden waren. Auch Elisabeth von Herzogenberg war hier in San Remo mit nur 44 Jahren ihrem Herzleiden im Beisein ihres unglücklichen Mannes erlegen, der sie nur drei Monate nach ihrer Ankunft im Januar 1892 in einem Grab in fremder Erde zurücklassen musste.
Sicher hätte man nach einigen Recherchen im quirligen San Remo in einer der noblen alten Villen und Kurhotels an der Via Aurelia den Aufenthaltsort der Herzogenbergs herausfinden können. Wichtiger aber als alten Hoteleintragungen nachzuspüren war für uns, das legendäre Grab der Komponistin zu entdecken, von dem alle etwas Vages munkelten, aber selbst Experten nichts Genaues über seine Lage berichten, geschweige den Bilder davon zeigen konnten.
So suchten wir während eines frühsommerlichen Ligurienurlaubs in San Remo nach Hinweisschildern an allen Nebenstraßen, die von der alten römischen Via Aurelia abzweigten. Eher zufällig fanden wir Zeichen für einen Friedhof und eine Kapelle, denen wir dann mühsam durch den nicht abreißenden Strom der Autos folgten, um bei einer südlichen Abzweigung zu einer ausgeschilderten römischen Strandvilla endlich die richtige Spur zu erwischen. Auf der Hälfte zwischen Via Aurelia und Mittelmeer standen wir plötzlich staunend vor einem hohen zweiflügeligen Eisentor, das sich auf eine prachtvolle Familiengruft im byzantinischen Stil hin öffnete, dem alten Cimitero di San Remo.
Wir betraten eine andere Welt, einen melancholisch verfallenden Friedhof voller weißer Marmorgräber, Skulpturen und eindrucksvoller Grabhäuser unter Palmen, Eukalyptusbäumen und Zypressen. In diesem heiter durchsonnten Totengarten haben die kultivierten und reichen Trauernden der Belle- Epoque-Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einen intimen Ort für ihre lieben Verstorbenen gestaltet, der in seiner gärtnerischen und architektonischen Schönheit die seltenen Besucher in eine eigentümlich anrührende Welt versetzt und unvermittelt zu tiefem Nachdenken über Leben und Tod und die Liebe der noch in der Welt Verbliebenen, „die stärker ist als jeder Tod“, führt.
Nachdem wir das hohe Eingangstor zum Totenreich durchschritten hatten, begannen wir zunächst etwas beklommen und orientierungslos mit unserer Suche im westlichen Teil des Marmorparks. Wir ließen uns einfangen von fern vergangenen Zeiten und verweilten im Staunen über die verflossene Pracht der verfallenen Grabmonumente und stattlichen Statuen der vergessenen Trauerengel, Kapellen, Kindergräber, Reliefs und Inschriften, die fremde Lebensgeschichten erzählten. Das gesuchte Grab aber fanden wir nicht.
Zu unserer Verblüffung kamen wir am späten Vormittag, schon etwas vom vergeblichen Suchen ermüdet, an einem versteckten winzigen Holzhäuschen vorbei, das wir anfangs am Eingang übersehen hatten und aus dem uns ein freundlicher italienischer Friedhofswärter anlächelte. Erstaunt über die Anwesenheit eines Lebewesens in diesem Gräberpark konnten wir ihm dann mit unserem rudimentären Italienisch klarmachen, was wir suchen. Er konnte uns am Anfang für über 100 Jahre zurückliegende Bestattungen allerdings keine Hoffnung machen. Als wir aber darauf hin wiesen, dass es sich bei der adeligen Dame um eine Musikerin handelt, ein Schülerin des großen Brahms fiel, ging bei diesem Namen ein Leuchten über sein Gesicht, und er holte die ältesten Gräberverzeichnisse aus einem verstaubten Regal hinter sich hervor. Das Ergebnis: In einem der Bücher war tatsächlich Elisabeths Grab mit einer feinen, noch lesbaren Handschrift eingetragen, und zwar unter der Nummer 538. Er gab nebenbei jedoch gleich zu bedenken, dass das Grab schon eingeebnet sein könnte. Der Friedhof werde ja immer noch für neue Grablegen genutzt und nicht um jedes alte Grab würde sich noch jemand kümmern.
Trotzdem zogen wir los, der freundliche Kustode mit seinem Quadranten vorweg, dabei immer wieder sich hinabbeugend zu den oft verschwundenen Gräbernummern, dann plötzlich eine andere Ecke des Totengartens aufsuchend und kopfschüttelnd wieder in das große Buch schauend, - und wir zwischen Hoffen und Bangen etwas hilflos immer hinterher. Schon wollten wir beim wiederholten Passieren derselben Gräberquadrate aufgeben und, leicht hungrig, lieber in Richtung unseres Ferienhauses an der Riviera di Ponente weiterfahren. Da aber hielt der hilfsbereite Mann auf einmal unvermittelt vor einem besonders schön gelegenen, über zwei Meter hohen Grabtempelchen im Schatten zweier Palmen an: Es war das tatsächlich das noch existierende und lang gesuchte Grab der Elisabeth von Herzogenberg, geborene von Stockhausen. Von Bäumen beschattet in der heiteren Stille eines mediterranen Sonnentages schimmerten uns ein Marmorrelief und eine deutsche Grabinschrift entgegen, die wir fasziniert in Augenschein nahmen. Der freundliche Wächter war selbst sehr glücklich über seine Entdeckung, verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung und schritt mit seinem großen Folianten unter dem Arm leichten Schrittes davon.
Wir konnten uns nun in aller Ruhe der Betrachtung des Grabes der Elisabeth und unseren Gedanken an Heinrich von Herzogenberg hingeben, der hier für immer seine mitten im Winter des Jahres 1891/2 mit 44 Jahren allzu früh verstorbene Frau in fremder Erde zurücklassen musste. Nur neun Tage zuvor war Elisabeths eigene Mutter in Florenz verstorben, Heinrich von Herzogenberg selbst war krank, er musste allein über die Alpen in das winterliche Berlin zurück fahren. Wie viel inneres Leid, Trauer und Schmerz muss sich hier an diesem Grabe im Herzen des vereinsamten Komponisten abgespielt haben? Er selbst spricht von „wütendem Jammer“, der ihn angesichts des Leidens und Sterbens seiner lieben „Lisl“ erfasst habe, setzt aber später gegen all seinen Schmerz unter das Grabrelief die Worte: DIE LIEBE IST STAERKER ALS DER TOD.
In der ersten Zeit der bitteren Trauer über den plötzlichen Verlust komponiert er in rastloser Arbeit eines seiner bedeutendsten Werke überhaupt, das Klavierquartett e- Moll op. 75. Als postume Liebeserklärung an seine jung verstorbene Elisabeth gibt er noch 1892 deren Acht Klavierstücke heraus und verarbeitet in den Variationen seines anschließend komponierten Streichquintetts op. 77 Elisabeths Rückertsche Liedvertonung Du bist vergangen, eh ich´ s gedacht. Im gleichen Zeitraum entsteht unter dem Eindruck des Todes von Elisabeth die Todtenfeier op. 80, die das Spätwerk von Herzogenberg mit seinen großen religiösen Kompositionen einleiten sollte. In das gemeinsam im Vorjahr gebaute Sommerhaus „Abendroth“ in Heiden hoch über dem Bodensee muss er jetzt Mitte 1892 ohne seine geliebte Elisabeth einziehen. Im Herbst nimmt er neben seinen Kompositionen die Berliner Akademietätigkeit als königliches Senatsmitglied, Kompositionslehrer, Herausgeber von Urtexten und Chordirigent wieder auf. Mit nur 48 Jahren zum Witwer geworden hat er noch eine Lebensspanne von 8 Jahren vor sich, welche Schaffenskraft und persönliche Würde in ihm steckt, zeigt deutlich ein Foto aus diesem Jahr, das ihn im stattlichen Ornat eines Senatsmitglieds der königlich- preußischen Akademie der Künste präsentiert.
Die Grabanlage ist in einem hervorragenden Erhaltungszustand. Ohne statische Absenkungen oder Verwitterungen, wie bei manchen Nachbargräbern aus dieser Zeit, präsentiert es sich so, als würde es von unbekannter Hand gepflegt und heimlich umsorgt. Es spricht den Bertrachter in seiner geschmackvollen Schlichtheit und künstlerischen Anmut unvermittelt an und bezaubert ihn durch sein fast antikes Gepräge. Baron von Herzogenberg muss für die künstlerische Verewigung seiner Gattin in San Remo einen großen Meister gefunden haben, der in diesem Grabrelief im Renaissancestil eines der eindrucksvollsten Trauermonumente dieses ästhetisch so reich gestalteten Friedhofes geschaffen hat.
Auf einem breiten Plattensockel aus hellem, wahrscheinlich carrarischem Marmor präsentieren zwei nackte Kinderengel eine Tafel, die in fünf unterschiedlich großen Zeilen mit dunkelbraun ausgemalten Großbuchstaben Namen , Lebensdaten und Lebensorte zwischen Paris 1847 und San Remo 1892 festhält. Diese schöne Antiquaschrift schreibt in romanischer Manier das U als V und fasst den Umlaut Ä in einem A mit angesetztem E zu einem einzigen Buchstaben zusammen. Auf dem vorderen Teil der Sockelbasis ist in Sitzhöhe eine Art Bank freigelassen. Wahrscheinlich diente sie zum Verweilen oder zur Ablage von Blumen, Kränzen und Devotionalien.
Der rückwärtige Teil dieses Fundaments trägt einen kleinen Giebeltempel mit feiner, antikisierender Floralornamentik als dezente Rahmung für eine hell strahlende Nischenszene : Unter einem Halbbogen auf zwei verzierten Pilastern sitzt vor einem Ballustradengewölbe im Basrelief voll Anmut eine junge Frau in leichtem Gewand und lose zusammengehaltenem Haar, wie wir es von den Porträts und Fotos Elisabeths kennen, und spielt, im Profil, das nach dem Leben gestaltet zu sein scheint, nach links gewandt mit lockeren Händen auf einer Tastatur, auf die dichte Orgelpfeifen wie ein Schleiervorhang herabfallen. Diese Darstellung hat im gesamten Habitus große Ähnlichkeit mit dem Leipziger Foto von Elisabeth aus dem Jahre 1880, nur ist hier das bekannte Profil spiegelsymmetrische dazu abgebildet. Trotz der wirklichkeitsnahen, individuellen Züge, die Konzentration und Leichtigkeit miteinander verbinden, wirkt sie hier auf dem Grabrelief fast madonnenhaft verklärt, schon Zeitgenossen rühmten ja an ihr neben dem „lichten Goldhaar“ ihre „engelhafte Harmonie“. In diesem Bildnis wollte Heinrich von Herzogenberg seine Frau für sein Gedenken verewigt wissen, als einen musizierenden Engel, der mit leichter Hand zur Freude für sich und andere die Tasten zum Klingen bringt, - auch noch im Himmel:. Ganz zart über dem Kopf der hier verewigten Brahmsschülerin, Pianistin und Komponistin schwebt ein kleiner Heiligenschein. Wollte der Meister sie damit aus der Welt menschlichen Musizierens in die Sphären himmlischer Musik erhöhen? Auf dem Erdboden des eigentlichen Grabes wachsen vor dem Marmordenkmal zwei Palmen, die sich aus unterschiedlichen Höhen mit dem frischen Grün ihrer feingliedrigen Palmettenfächer zu dem musizierenden Engel hin neigen, als würden sie seinen Tönen lauschen. Von der Rückseite her schmiegt sich ein sonnendurchleuchteter Feigenbaum an den gleißenden Marmor und wenige Schritte hinter der flachen Kirchhofsmauer, welche die Stätte der Toten zu einer ausgegrabenen Römervilla hin abgrenzt, rauscht heute das aufgepeitschte Meer mit meterhoher Gischt herauf.
Am Strand spielen und springen lärmende Kinder vor den anbrandenden Wellen. Wir nehmen Abschied von diesem schönen Ort und verweilen noch etwas im Anblick des aufgewühlten Meeres vor einem blassblauen Sommerhimmel.
Manfred Merker, San Remo im Juni 2007
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Elisabeths Grabmahl in San Remo. Schöpfer ist der mit den Herzogenbergs befreundete Bildhauer Adolf Hildebrand, der damals bei Florenz lebte. | |