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Heinrich von Herzogenberg:
Sonaten für Violoncello und Klavier
op. 52, op. 64, op. 94
"Und ich sitze hochvergnügt am Schreibtisch und arbeite, daß man versucht wäre zu glauben, die ganze civilisirte Welt schrie nach mir und meinen Werken. Vergnügt bin ich, weil ich stets Fortschritte mache, und das unermeßliche Glück genieße, ein Musikus zu sein. Und falle ich mit einem Werke um, so stehe ich mit dem nächsten wieder auf, und juble innerlich, daß es stets wieder ein neues giebt".
Diese Worte des damals noch nicht 31jährigen Heinrich von Herzogenberg konnte Friedrich Wüllner im Januar 1874 lesen - und er wird wohl gemerkt haben,
dass er es bei dem Briefschreiber mit einem Vollblutmusiker zu tun hatte. Denn was der junge Komponist hier notierte, dieses prächtige Gefühl des Erschaffens, das ungetrübt ist von allen Fragen kommender Aufführungen und Kritiken, dieses ganz-bei-sich-Sein des Künstlers, diese beinahe göttliche Genugtuung kann man nur dann mit Worten wie den obigen darstellen, wenn man's auch erlebt: Nichts stört, nichts trübt den
Fluss der Erfindungen, kein Besserwisser mengt sich in den Gang der Dinge; der Schaffende ist sich selbst sein bestes Korrektiv,
muss sich nicht in seine Arbeit hineinreden lassen, verwirft nach Gut- oder Schlechtdünken und wächst mit jedem kompositorischen Problem, das er sich stellt und das er löst.
Bemerkenswert ist das Datum des "hochvergnügten" Briefes, denn rein äusserlich betrachtet steckte Herzogenberg damals in einer tiefen künstlerischen Krise, die er selbst als seine "Häutung" bezeichnete: Grund zum Frohsinn, so lehren uns zahllose Beispiele aus der Musikgeschichte, hätte es da eigentlich nicht geben dürfen. Drei Jahre auf die Publikation neuer Werke verzichten, sich in Schweigen hüllen, um mit sich über den weiteren Fortgang der eigenen schöpferischen Dinge ins Reine zu kommen - das ist ein Verzicht, der nur selten als Tugend und ebenso selten als vergnüglich empfunden wird. Die Angst, man könne sich "ausgeschrieben" haben und sei dazu verdammt, fortan von den Früchten vergangener Ideen leben zu müssen, kann übermächtig werden.
Im Falle des Tschaikowsky- und Dvořák-Altersgenossen Heinrich von Herzogenberg aber, der ganz offenbar das Suchen als künstlerischen Luxus
genoss, entsteht bei näherer Inspektion ein ganz anderes Bild, dessen man nur inne wird, wenn man die frühen Jahre berücksichtigt, in denen aus dem am 10. Juni 1843 in Graz geborenen Sohn des k.k. Kämmerers und Gubernialsekretärs August von Herzogenberg eine lokale Grösse der Steiermark wurde.
Vermutlich war's die väterliche Profession, die den jungen Mann bewogen hatte, sich in Wien als Student der Rechtswissenschaften und der Philosophie zu immatrikulieren. Nicht lange aber, und er wandte sich von den beiden einander widersprechenden Gegenständen ab, um sich bei Felix Otto Dessoff in der Kunst der Komposition unterweisen zu lassen. Im Laufe dieser weit gemässeren Ausbildung lernte er unter anderem Johannes Brahms, den Freund seines Lehrers kennen, der von der Begabung des angehenden Tonkünstlers einigermassen überzeugt gewesen sein
muss: Andernfalls hätte er gewiß nicht sein Wort in die Waagschale geworfen, um Herzogenberg zu einem Verlag zu verhelfen.
1868 vermählte sich Heinrich von Herzogenberg mit Elisabeth von Stockhausen, der Tochter des hannoverschen Gesandten am Wiener Hofe. Die Eheleute übersiedeln nach Graz, wo der ambitionierte Komponist während des nächsten Lustrums unter anderem mit seiner Kantate Columbus und seiner Symphonie Odysseus vielversprechende Erfolge feiern kann. Die Tatsache,
dass selbst der eingeschworene "Neudeutsche" Friedrich von Hausegger äusserst lobende Worte für die grossangelegten Werke findet, lässt erahnen, welcher Sprache sich Herzogenberg damals befleissigte, welcher Art die klanglichen Visionen waren, die er zu Papier brachte.
Dessenungeachtet muss sich um diese Zeit jene grundlegende, fast mysteriöse künstlerische Wandlung vollzogen haben, die der Komponist - wie eingangs erwähnt - ganz lapidar seine "Häutung" nannte. Was hinter den Kulissen passierte, kann man allenfalls erahnen. Womöglich war es dem unmittelbaren
Einfluss der von Johannes Brahms ausgebildeten Gemahlin zuzuschreiben, dass allmählich der in Richtung Zukunftsmusik führende Weg zugunsten einer eher klassizistisch-traditionellen Orientierung aufgegeben wurde. Verständlicherweise denkt man da an einen Ortswechsel - es wäre ja auch zu sonderbar gewesen, hätte Heinrich von Herzogenberg das heimische Publikum nach den bisherigen szenisch-programmatischen Prachtbauten mit jenen vornehmlich intimen Kammermusiken konfrontiert, die zu seiner Domäne werden sollten.
In die Zeit des grossen Umbruchs jedenfalls fällt die Entscheidung, Graz den Rücken zu kehren. 1872 übersiedelt das Ehepaar nach Leipzig. Zwei Jahre später gründet Herzogenberg mit Philipp Spitta und anderen den Bachverein, dessen Leitung er 1875 übernehmen wird. Mehr und mehr rücken die Alten Meister ins Zentrum des Interesses, und als im Frühjahr 1874 ein Brahms-Fest stattfindet, vertieft sich auch die bis dato nur flüchtige Bekanntschaft zum einstigen Lehrer der Gattin: Fortan wird der norddeutsche Wiener zum Leitstern des kompositorischen Schaffens - und das in einem solchen Masse,
dass frühere biographische und analytische Versuche in die Irre gehen mussten: Als Brahms-Freund und -Epigone geistert Heinrich von Herzogenberg durch die "Würdigungen" all jener, die weder die wirkliche Beziehung der beiden Männer zueinander noch das Oeuvre des zehn Jahre Jüngeren je einer gründlichen Untersuchung für nötig erachtet haben.
De facto war das Verhältnis Brahms-Herzogenberg sowohl menschlich als auch musikalisch erheblich komplizierter als uns diese Schulweisheiten vormachen wollen. So übersteigt die Zahl der Briefe, die zwischen Brahms und Frau Elisabeth hin- und hergingen, bei weitem die Korrespondenz der beiden Männer. Wenn Brahms seiner ehemaligen Schülerin schrieb, sprach er zwar immer wieder von "Heinz"; die Distanz zu diesem aber und die fast durchgehende Ablehnung seiner kompositorischen Annäherungsversuche will sich mit der allgemeinen Vorstellung von Freundschaft kaum vereinbaren lassen.
Schon der erste Brief, den Herzogenberg am 1. August 1876 an Johannes Brahms sandte, und die rund drei Wochen später erfolgte Antwort sprechen Bände. Er hoffe, so schreibt Herzogenberg damals, "den Grund zu einer Raritätensammlung" legen zu können, als er seinem Vorbild die Variationen über ein Thema von Johannes Brahms op. 23 (Fussnote 1) zukommen lässt: "Einmal im Leben der Erste sein zu können, war sehr verlockend". Ernüchternd ist der Widerhall, den das Werk findet: "So verzeihen Sie also, wenn mein Dank früher anfängt, und mein Urteilen früher aufhört, als Sie es wünschen", heisst es ebenso elegant wie hinterlistig in Brahms' Empfangsbestätigung vom 20. August 1876.
Und so geht es dahin. Immer wieder prescht Herzogenberg vor, immer wieder stösst er auf eine geschickt kaschierte Ablehnung, die in ihrer Raffinesse bisweilen geradezu beleidigende Züge annimmt: "Sollte ich Ihnen wirklich noch nicht für die Symphonie gedankt haben? Dann ist es unterblieben, weil ich gern mehr als 'danke' gesagt hätte", lesen wir in dem Brief vom 5. Dezember 1885, mit dem Brahms auf die Zusendung der ersten gezählten Symphonie op. 50 reagiert. (Fussnote 2)
Es muss gerüttelt Mass an Selbstverleugnung dazugehören, trotz solch offensichtlicher Abweisungen (und die zitierten sind nur die Spitze des Eis=Berges Brahms) immer wieder um die Gunst dessen zu werben, den eben diese Bemühungen, so scheint's, in keiner Weise erfreuten.
Das Motiv der Ablehnung mag verständlich sein: "Mehr wie bei anderen Kollegen muß ich bei Heinz' Sachen an mich denken und werde daran erinnert, wie und wo - ich eben auch zu lernen und zu machen versuche", räumt Brahms 1887 in einem Brief an Elisabeth von Herzogenberg ein, und das Unbehagen, das eigene Spiegelbild zu erblicken, ist unverkennbar: Gelegentlich wird man dabei nämlich einige derselben Unzulänglichkeiten erblicken, mit denen man selbst noch nicht fertiggeworden ist.
Schwerer als die Zurückweisung hingegen ist nachzuvollziehen, dass ein begabter, fleissiger und durchaus erfindungsreicher Komponist seinen eigenen Erfolg, sein eigenes Vermögen derart fixiert von der Zustimmung einer einzigen Person oder Persönlichkeit abhängig macht, um endlich gar den Rückzug aus der Öffentlichkeit in ein Zeichen des Erfolgs und der Anerkennung umzumünzen: "Auf's Publicum verzichtet man ja gern, wenn man ein paar gute Leute hinter sich hat; ist dies aber auch nicht der Fall, dann bleibt einem nur das eigene Bewußtsein - wenn man eins hat!" (21.März 1884)
Fünfzehn Jahre zuvor hatte das noch ganz anders geklungen. Damals hielt Heinrich von Herzogenberg den lebendigen "Verkehr mit dem Publicum" für Sinn, Zweck und Grundlage wahrer Kunst. Jetzt aber ist er zu einem Kammermusiker par excellence geworden, zu einem komponierenden Eskapisten, dessen höchste Vorstellung von künstlerischem Glück in ein paar freundlichen Worten und einem kleinen Kreis wahrhaft vertrauter Personen bestand und dessen Selbstzweifel kaum mehr zu verbergen sind: "Ich bin also in Berlin durchgefallen, und in Leipzig hatte ich einen richtigen Erfolg! Wo liegt nun die Wahrheit? - Ich beneide Brahms um Nichts, blos um das Gefühl von Sicherheit solchen Ereignissen gegenüber; es läßt sich aber leider weder geben noch erwerben, da es die Folge einer sehr starken Begabung ist, die man gewöhnlich Genialität nennt. Ein Mensch meines Calibers, der mit dieser inneren Sicherheit prahlt, lügt sich mit vollem Bewußtsein an" (6. Januar 1884).
Sind wir hier posthume Zeugen einer Demontage, die von früher Begeisterung zu "reifer" Bescheidenheit und Einsicht führte - oder gebrach es Heinrich von Herzogenberg trotz seiner nachweislich hohen Befähigung an einigen Zügen, derer es bedarf, um den zumindest zeitlichen Durchbruch an die Spitze der Zunft zu schaffen?
Jene Sicherheit, die er an Brahms beneidete, muss ihm tatsächlich gefehlt haben. Man kann sich, wenn man die jeweiligen Schwerpunkte seines Werkkatalogs betrachtet, des Eindrucks nicht erwehren, Heinrich von Herzogenberg sei ein Fähnlein im Winde gewesen. Zunächst gibt er sich überzeugt und überzeugend als Frühwagnerianer. Nach seiner Heirat und der Übersiedlung nach Leipzig fällt er ins andere Extrem. Nach dem frühen Tode schliesslich seiner Frau (sie stirbt 1892 im Alter von 44 Jahren) und dem Verlust des Intimfreundes Philipp Spitta (1894) wird dessen Bruder Friedrich zu einem geistigen Orientierungspunkt: Unter dem Einfluß des Theologen wendet sich der Katholik Herzogenberg der protestantischen Kirchenmusik zu, die er bemerkenswerterweise um verschiedene Oratorien bereichert, in denen letztlich die frühe Einsicht von der Bedeutung des Publikums sublimiert erscheint: Sowohl Die Geburt Christi op. 90 als auch Die Passion op. 93 und die Erntefeier op. 104 beziehen den Gemeindegesang mit ein.
Lange hat Heinrich von Herzogenberg diese späten Werke nicht überlebt. Um seine Gesundheit war es schon seit den 80er Jahren nicht mehr zum besten bestellt. Er starb am 9. Oktober 1900, nachdem er zu Beginn des Jahres aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit all seine Ämter hatte niederlegen müssen - darunter die Professur an der Königlichen Musikhochschule zu Berlin und die Kompositionsklasse, die er 1897 nach dem Tode Woldemar Bargiels übernommen hatte.
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"Einen Musiker von größerer Bildung hat es nie gegeben. Ohne Probleme brachte er Fugen, Kanons usw. usw. hervor, die man rückwärts oder kopfüber oder unter der Lupe lesen konnte - eine gewiß seltene und bemerkenswerte Fähigkeit, die freilich so wenig mit Musik zu tun haben dürfte wie in sich selbst einen Knoten zu machen oder zwölf Schachpartien simultan zu spielen. Jeden Tag komponierte er zu festgesetzten Zeiten, und das Ergebnis war, wie man schon vermuten wird, oftmals trocken".
1878 hatte die englische Musikstudentin Ethel Smyth Heinrich und Elisabeth von Herzogenberg kennengelernt, bei denen sie schon bald als "das Kind" geführt wurde. Dem ausgesprochen innigen Verhältnis, das zwischen der grossen Komponistin und engagierten Suffragette und ihren "Zieheltern" entstand, verdanken wir einige ebenso lesenswerte wie aufschlussreiche Einsichten, in denen man unter anderem den etwas bürokratischen Umgang des "Vaters" mit dem Notenpapier entdecken kann. Natürlich wird das Prinzip des Nulla dies sine linea, die tägliche Übung des schriftstellerischen oder kompositorischen Handgelenks, mitunter spröde Resultate zeitigen, für die der Papierkorb der einzig richtige Bestimmungsort ist, und selbst die beste Beherrschung des reinen Handwerks ist noch lange kein Garant für künstlerische Produkte, die ihren Namen wirklich verdienen (man denke an Beethovens Glorreichen Augenblick oder Weihe des Hauses).
Gleichwohl war es nicht ganz fair von Ethel Smyth, die täglichen Übungen ihres Lehrers Herzogenberg mit wahrhaft inspiriertem Komponieren gleichzusetzen. Was zählt, sind die Ergebnisse, unter die der Verfasser sein imprimatur setzt - und diesbezüglich ist die Ausbeute namentlich auf dem Gebiete der Kammermusik bedeutend. Die beiden Streichtrios op. 27 etwa, die Klaviertrios op. 24 und op. 36, dann die drei Streichquartette op. 42, das geradezu bezaubernde Trio für Oboe, Horn und Klavier op. 61 oder das zweite Klavierquartett op. 95 (cpo 999 710-2) sind nicht minder relevant als die drei Sonaten für Violoncello und Klavier, die Heinrich von Herzogenberg zwischen 1886 und 1895 verfasst hat. Der schöpferische Leerlauf, der all diese Werke womöglich voneinander trennt, darf bei der Betrachtung dessen, was an die Öffentlichkeit gelangte, eigentlich keine Rolle spielen ...
Seine erste Cellosonate op. 52 komponierte Heinrich von Herzogenberg, als ihn die Berliner Musikhochschule eben zum Nachfolger von Friedrich Kiel berufen hatte, der am 14. September 1885 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Mit einem Mal war Herzogenberg Professor, und auf diesen akademischen Aufstieg spielt er in einem Briefe an, mit dem er seinem Freund, dem Physiologen Theodor Wilhelm Engelmann und dessen Gattin, am 31. August 1886 das neue Werk zur wohlwollenden Begutachtung präsentiert. Er liefere hiermit ein Stück "in A?Moll, furioso sempre, ma con passione, einen wahren Waldteufel, und kein Professorenstück, wie Ihr wohl erwartet! Sie werden vielleicht fragen, warum man dem feuchten Baryton, dem Liebling der Damen [= Cello] solche Dinge zumuthet? Ganz einfach, weil ich immer fand, daß kein Instrument so geeignet sei den Grimm (manchmal das Grimmen) darzustellen, wie eben das Violoncell. Schon die Stellung des Spielers! Ist's nicht, als holzste er einen Feind, den er am Kragen gefaßt, weidlich durch? Können Sie sich bei gewissen Passagen gewisser Virtuosen etwa Anderes vorstellen, als das Knirschen und Rasseln der ganzen Gehenna? In diesem Sinne gehen Sie also an die Arbeit, und machen Sie mir keinen Vorwurf, da ich ja die Intention so offen eingestanden. Sollte irgendwo nun doch ein Lichtblick sein, oder irgend Etwas daran Ihnen gar gefallen, so tragen Sie mir's, bitte, nicht nach!"
Trefflicher kann man das Werk nicht beschreiben. Allein das Aufbrausen des ersten Satzes packt den "Feind" derart nachdrücklich "am Kragen",
dass man sich unwillkürlich fragt, wer denn wohl der also Attackierte sei. Sollten an dieser Stelle etwa alle Spekulationen über den Brahms-Epigonen null und nichtig werden und wir zukünftig von einem Eklektizisten im eigentlichen Sinne des Wortes sprechen müssen - mithin von einem Komponisten, der sich aus der Fülle insgesamt verfügbarer Vokabeln und Grammatiken ganz bestimmte Formulierungsweisen, gewissermassen den Zungenschlag oder Dialekt aussuchte, der dem jeweiligen Vorhaben am zuträglichsten war? Dann hätte man's zumindest im Kopfsatz dieses Werkes mit einem eigentümlichen Phänomen zu tun:
Dass nämlich der Verfasser mit denselben Mitteln, die er zuvor immer wieder zur Erlangung einer positiven Resonanz benutzt hatte, jetzt auf einmal oder aber wenigstens diesesmal auf die Person losgeht, die ihm seine Mühen kaum je gedankt hat. Vergessen wir nicht,
dass der Haken, den Brahms um Herzogenbergs Symphonie c-moll op. 50 geschlagen hatte, nur einige Monate zurückliegt ...!
Die Vermutung scheint sich im zweiten Satz zu bestätigen, in dieser weithin rezitativisch gehaltenen und bewegenden Elegie, deren resignierender Ton ebenso deutlich eigene Pfade beschreitet wie das Variationsfinale, in dem die gelegentlichen Anklänge an die Brahms'schen Haydn-Variationen eher wie Beinahe-Zitate denn einfallslose Nachahmungen erscheinen. Was Wunder,
dass Philipp Spitta am 23. August 1886 seinem Freunde höchstes Lob zollte: "Die Cello?Sonate ist gewiß eines Deiner besten Stücke; Du hast, wie mir scheint, noch nichts geschrieben, was so kunstvoll, männlich und gesund einher schreitet, wie dieser erste Satz. Sie hat meinen Segen auf den Weg."
In der drei Jahre jüngeren zweiten Sonate op. 64 findet die Emanzipation ihre Fortsetzung - und das wiederum mit den Mitteln des Beinahe-Zitats. Der prinzipiell klassisch gebildete Kopfsatz bedient sich eines Hauptgedankens, dessen Nähe zum Beginn der zweiten Brahms-Symphonie sicherlich kein Zufall ist. Doch dann lenkt Herzogenberg das Brahms'sche D-dur in Bahnen, die ferne Regionen ansteuern. Die stark chromatischen Färbungen und Harmoniefolgen namentlich des Nebenthemas lassen sich ohne Frage als die Ausweichungen eines "Epigonen" hören, der wider den Stachel löckt. (Fussnote 3)
Der quasi nostalgische Charakter des ersten Satzes intensiviert sich im nachfolgenden Scherzo, das sich bis in die Zeiten Schubertscher Moments musicaux zurückbegibt, augenblicksweise an das Finale aus Brahms' erstem Klavierquartett erinnert und dergestalt zwischen Historie und Gegenwart pendelt, ohne auf eigene, äusserst gelungene und charmante Klangwirkungen zu verzichten.
Im Dezember 1877 hatte Philipp Spitta seinem späteren Duz-Freund geschrieben: "Formgefühl, Stil, Geist, alles das findet sich bei Ihnen reichlich. Was mir manchmal noch fehlt, ist eine gewiße Warmblütigkeit, sind Melodien, die man ans Herz drücken möchte". Zwölf Jahre danach dürfte er's zufrieden gewesen sein, denn das Andante der zweiten Cellosonate läßt sich vorbehaltlos "ans Herz drücken". Wie bereits im drei Jahre älteren Schwesterwerk bildet ein Rezitativ (in dem sich geschickt Nicht diese Töne verbergen) Auftakt und Grundlage des Satzes, und die Kantilene, in die sich dieses Rezitativ auflöst, hätte auch das übermächtige Vorbild nicht besser machen können.
In dieser Kantilene berührt Heinrich von Herzogenberg mehrfach das Hauptthema aus dem Finale der ersten Brahms-Symphonie und damit das "Freudenthema" der neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven - aber nicht so,
dass es "jeder Esel hört", sondern ganz versteckt und wie eine geheime Vorbereitung auf die einfach-behagliche, behaglich-einfache und liedhafte Stimmung, die sich im sonatenförmigen Finale ausbreitet und damit auf die vermeintliche Idylle des ersten Allegro zurückkommt. Hinter der Fassade der Bescheidenheit und Ruhe aber gärt es, wie Theodor Engelmann in seinem Dankschreiben vom 28. April 1890 bestätigt: "Welche freudige Überraschung, diese eben erhaltene Cellosonate! Sie sieht so unschuldig aus,
dass man fast das Unzulängliche seiner Technik vergessen könnte u. auch das Clavier scheint ja im Bereich sterblichen Könnens zu liegen. Beim Spielen ändert sich freilich Manches. Wir haben uns natürlich sofort mit aller Liebe daran gemacht, wobei mir allerdings klar wurde, daß die wenigen Noten streckenweise viel schwere Musik enthalten ..." Es liegt nahe, daß er damit nicht nur nur die technischen Herausforderungen gemeint hat.
Sein Opus 52 hatte Heinrich von Herzogenberg Robert Hausmann, dem Cellisten des Joachim-Quartetts, gewidmet. Als "Verlobungssonate" für Helene und Robert Hausmann bezeichnete er dann sein Opus 94, das vorletzte seiner Kammermusikwerke, das jedoch zunächst einem ganz andern Zwecke diente - dem Komponisten nämlich den Weg aus der Sackgasse zu zeigen, in die er sich während der Arbeit an seiner Passion op. 93 hineinbefördert hatte. "Da brauchte es eine tüchtige Cur, die ich mir in Form einer anderen sehr contrastirenden Arbeit verordnete", meldet er Friedrich Spitta im Oktober des Jahres 1895.
Die Therapie gelingt. Sowohl in der dritten Cellosonate als auch im unmittelbar danach entstandenen zweiten Klavierquartett hat Herzogenberg ein Mass künstlerischer Eigenständigkeit erreicht, das man von dem inzwischen 52jährigen "Brahms-Epigonen" nicht mehr hätte erwarten dürfen. Jahre-, nein jahrzehntelang war er von dem Streben getrieben worden, es einem unerreichbaren Idol nachzutun, das vielleicht nicht einmal sein eigenes gewesen war. Jetzt hat er sich befreit. Die beinahe volkstümliche Einfachheit der Melodik - wer hörte im ersten Satz nicht die Umrisse des Üb' immer Treu und Redlichkeit und im Andantino trotz aller geographischen Unmöglichkeit nicht My Darling Clementine -, diese melodische Einfachheit aus der Zeit des oratorischen Gemeindegesangs spricht für sich. Entwicklungen dieser Art sind in der Geschichte der Musik nicht ungewöhnlich. "Höre fleißig auf alle Volkslieder; sie sind eine Fundgrube der schönsten Melodien und öffnen dir den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen", heisst es in den Musikalischen Haus- und Lebensregeln von Robert Schumann; Richard Wagner soll sich nach dem Parsifal mit dem Gedanken an "kleine Symphonien" getragen haben; Sergej Prokofieff beendete seine kompositorische Karriere nach diversen Barbarismen mit einer Symphonie "für die Jugend" (Nr. 7) und anderen einfachen, quasi volkstümlichen Piecen; Carl Nielsens sechste Symphonie ist nicht nur dem Namen nach eine "Sinfonia semplice" - ganz so, als sei nach einem lebenslangen Streben nach der Bestätigung intellektueller Fähigkeiten (oder auch poltischer Linientreue) jede Prätention abgefallen: Mit einem Mal kommt die Musik an sich zum Vorschein, jene Musik, die jeder Komponist in sich trägt und auf deren Stimme er eigentlich von Anfang an hätte hören sollen. Einige mögen ja in der Komplexität das ihnen gemässe gefunden haben; andere aber wie Heinrich von Herzogenberg gingen in die Falle ihrer Vorgänger und Vorbilder und verloren dabei - wenigstens vorübergehend - ihre Sprache. Doing what comes naturally aber, tun, was einem zufliegt, ist noch immer der einzig gangbare Weg gewesen. Dann
muss man weder "auf's Publicum verzichten" noch das Heil in der Flucht nach Innen suchen.
Dass dieses späte "ganz-bei-sich-Sein" eine Überhöhung des Anfangs ist, lernen wir am Beispiel des Heinrich von Herzogenberg, der seine Vertrauten, Freunde und sein Vorbild in derselben Reihenfolge verlor, wie sie in sein Leben getreten waren. Bei der tragischen Reprise angekommen, hatte er gefunden, was er schon immer gewusst hatte ...
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Bernd Wiechert, dem Kenner, danke ich erneut für seine dokumentarische Hilfe.
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