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Vom Abendroth zum Morgenroth.
Nur Insidern bekannte Zusammenhänge.
Der heute Besitzer des «Morgenroth», Hermann Schmid,
berichtet über die Geschichte seines alten Bauernhauses, das 1898
von Heinrich von Herzogenberg vom Nachbarhaus «Abendroth» für die Berliner
Musikprofessorin Elise Breiderhoff-Frey umgebaut wurde und während
20 Jahren zu einem Sommertreffpunkt für Prominenz aus Musik und
Literatur wurde, bis sein Vater, Emil Schmid, es 1920 übernahm. Die
Illustrationen stammen aus dem Gästebuch des «Morgenroth». (Jedes
Bild lässt sich mit Klick vergrössern). |
Einbanddeckel vorne
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Hermann Schmid
Das Morgenroth und sein Fremdenbuch
Viel wurde über Heinrich von Herzogenberg und das ‹Abendroth›
geschrieben, meist realistisch und gut dokumentiert, oder aber dichterisch
verfremdet, wie in Wildenbruchs Novelle «Das tote Haus am Bodensee», mit der
die Herzogenberg-Tage 2002 eingeleitet wurden. Weniger bekannt ist, dass
sich seewärts vom ‹Abendroth›, nur einen Steinwurf entfernt, ein ehemaliges
Appenzeller Bauernhaus an den Hang schmiegt, welches ‹Morgenroth› genannt
wird. Diese Namensverwandtschaft ist kein Zufall, bestanden doch enge
Zusammenhänge zwischen den beiden Häusern. Der erste Eintrag im erhalten gebliebenen «Fremdenbuch für
Häuslein Morgenroth» (gestiftet von Auguste Grimm, Tochter des
Märchendichters Wilhelm Grimm) ist rechts abgebildet.
(Alle Abbildungen auf dieser Seite können mit
Klick vergrössert werden!) |
Der Eröffnungseintrag im «Fremdenbuch Häuslein Morgenroth»:
gewidmet von Auguste Grimm, der Tochter des
Märchendichters Wilhelm
Grimm.
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Herzogenberg als
‹Baumeister› an der
Einweihungsfeier des «Morgenroth».
Datiert: 16. Juli 1898, 4 Uhr Nachm.
(Vergrössern Sie das Bild mit Klick, dann erfahren Sie, dass das
Nachtessen aus ‹Kalbsbraten mit saurer Rahmsauce etc. etc.›
bestand ).
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Herzogenberg als Baumeister, oder besser gesagt als
Architekt? Das war nichts Neues. Er hatte, zusammen mit seiner Frau,
schon die Pläne für das ‹Abendroth› angefertigt und genauestens auf ihre
und seine Bedürfnisse abgestimmt. Doch wie kam er dazu, auch den Umbau
seines Nachbarhauses zu planen und zu leiten?
Unter den vielen Besuchern, die im ‹Abendroth› ein und aus gingen,
war auch Herzogenbergs Kollegin Elise Breiderhoff. Ihr gefiel es
ausserordentlich gut in Heiden und sie ergriff die Gelegenheit, für ihre
Sommerurlaube das kleine, ca. 1803 erbaute Bauernhaus unterhalb des
‹Abendroth›, mit wunderbarer Aussicht auf den Bodensee, zu kaufen. Da
war es für Herzogenberg wohl eine erwünschte Abwechslung, sich neben dem
Komponieren auf einem ganz anderen Gebiet kreativ zu betätigen. Nicht
ohne berechtigten Stolz wird er, zusammen mit Helene Hauptmann, die aus
Berlin angereiste Hausbesitzerin empfangen haben. Bemerkenswert ist das
Datum des 16. Juli 1898, nur 14 Tage nach Fertigstellung der Partitur
zur «Erntefeier», dem Höhepunkt der Herzogenberg-Tage 2002.
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Elise Breiderhoff-Frey. Bleistiftzeichnung von Emil Schmid.
Handschriftlicher Kommentar des Zeichners:
«Elise Breiderhoff, geb. Frey, 21. März 1849 - 1940 i. Luckau,
Lausitz.
1917 gezeichnet während ihres Sommeraufenthaltes in Heiden,
wo sie von 1898 bis 1918 jeden Sommer weilte.
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Goethes Geburtstag
am 28. August 1898 und «Fahnenweihe» am 7. September 1898!
Zahlreiche Grössen, vornehmlich aus der Musikwelt, sind dabei:
u.a.
Alfred Volkland,
Ansgar Spitta, ‹Festknaller›; Mietze Friedheim,
‹Appenzeller Zschischgeli›;
Zimmermeister Schläpfer und Flaschner Gebert, (lokale
Handwerker), ‹Festklopfer›;
Friedrich
(Fritz) Spitta, ‹Festredner›; H. Herzogenberg.
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Frau Breiderhoff stammte aus Luckau in der Lausitz, 60 km südlich von
Berlin. Sie war Professorin für Gesang an der Musikhochschule Berlin.
Von 1898 bis 1918 verbrachte sie die Sommermonate in Heiden, in der
Regel von Mitte Juli bis gegen Ende September. Stets wurde sie begleitet
von ihrer geliebten Pflegetochter Hedwig Mattner (die während der Zeit
des Nationalsozialismus in einer psychiatrischen Klinik umgebracht
wurde) und meist einigen ihrer Gesangs-Schülerinnen. Das «Fremdenbuch»
belegt, dass auch im ‹Morgenroth› fast unbegrenzte Gastfreundschaft
gepflegt wurde. Viele Besucher waren in beiden Nachbarhäusern zu Gast.
Leider dauerte das unbeschwerte, freundschaftliche Neben- und
Miteinander von ‹Abend- und Morgenroth› nur einen Sommer lang. Schon
1899 tauchen zwar die Namen von gemeinsamen Freunden noch im Gästebuch
auf, jener von Heinrich von Herzogenberg aber nicht mehr, obschon dieser
noch einige Wochen in Heiden verbrachte, zum letzten Mal. Offenbar war
er schon so krank (und auf den Rollstuhl angewiesen), dass der Weg ins
‹Morgenroth› zu beschwerlich war.
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Der
Eintrag zu Goethes 150. Geburtstag am 28. August 1899:
Carl Markees, Geiger, Musikpädagoge und Komponist, und
Ernst Thomas Markees, Pianist, Komponist und Musikpädagoge.
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Prominente Gäste im
Morgenroth. Zu erkennende Unterschriften:
10. August 1898:
Robert Radecke, Komponist, Dirigent und Musikpädagoge (zu sehen auf dem
Senat-Gruppenbild am Ende dieser Seite).
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Im «Morgenroth» herrschte weiterhin ein fröhliches
Gesellschaftsleben. Elise Breiderhoff muss eine ausgezeichnete Gastgeberin
gewesen sein, denn das Gästebuch ist voll von überschwänglichen
Dankbarkeitsbezeugungen, teilweise in Versform oder als Zeichnungen. Es
wurden Hauskonzerte gegeben (auch unter Mitwirkung von hervorragenden
Musikern aus dem Kreis der Gäste), kostümierte Singspiele wurden aufgeführt,
es wurde gekegelt und - nicht zuletzt - gut gegessen. Besonders gefeiert
wurde stets Goethes Geburtstag am 28. August. Leider ist die im Gästebuch
zumeist verwendete Deutsche Kurrentschrift oft fast nicht zu entziffern,
sodass wahrscheinlich noch einige Trouvaillen zu machen wären (wer hilft
uns?).
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Italienische
Nacht vom 23. August 1898:
Alfred Volkland, Dirigent und Pianist.
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Weitere Unterschriften von prominenten Besuchern:
13. September 1898: Der
Violinvirtuose Joseph Joachim, dem Herzogenberg sein
Violinkonzert A-Dur
und die Bearbeitung des Mozart-Rondos KV 511 für Violine und
Orchester gewidmet hatte. |
Die Gästeliste umfasst neben «gewöhnlichen» Leuten naturgemäss zahlreiche
Musiker und andere Exponenten des kulturellen Lebens, oft Jahr für Jahr die
selben. Auffallend häufig - und für uns Schweizer ungewohnt - erscheinen
Personen mit einem ‹von› im Namen oder gar einem Adelstitel. Stellvertretend
seien einige bemerkenswerte Gäste erwähnt:
- Helene Hauptmann, «Mädchen für Alles», treu besorgte
Gefährtin Herzogenbergs während seinen letzten Jahren, Tochter von
Thomaskantor Moritz Hauptmann, Leipzig. Nach dem Tode Heinrich von
Herzogenbergs war Helene Hauptmann von 1901 bis 1913 fast jeden Sommer
Gast von Elise Breiderhoff im ‹Morgenroth›. Leider ist über ihr weiteres
Leben nichts in Erfahrung zu bringen.
- Joseph Joachim, Geigenvirtuose, seit 1868 Direktor der neu gegründeten
kgl. Musikhochschule in Berlin, sowie sein Sohn Johannes Joachim,
Patensohn von Johannes Brahms und Elise Breiderhoff.
-
Friedrich ‹Fritz› Spitta, Theologieprofessor in Strassburg, der für
Herzogenberg die Texte zu dessen kirchlichen Werken verfasste.
- Karl Klingler vom berühmten Klingler-Quartett.
- Dr. F. Stockhausen. Elisabeth von Herzogenberg war eine geborene
Stockhausen.
-
Ernst von Wildenbruch, Dichter patriotischer Lieder und von Pathos
getragener Balladen. Als Dramatiker der wilhelminischen Zeit behandelte
er mit Neigung zum Theatralischen historische und patriotische Stoffe. -
Wildenbruch trug sich am 15. und 17. August 1902 ins Gästebuch des
‹Morgenroth› ein, anlässlich seines Besuchs im ‹Abendroth› mit seinen
verschlossenen Fensterläden und verschalten Balkonen. In der Folge
schrieb er «Das tote Haus am Bodensee».
- Wilhelm und Rose Röchling von der Eisen- und Stahlwerke GmbH in
Völklingen/Saar, neue Besitzer des ‹Abendroth›.
-
Robert Radecke, Komponist, Dirigent und Musikpädagoge
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Der Eintrag von Ernst
von Wildenbruch vom 17. August 1902.
Seine dramatische Reiseschilderung «Das tote Haus am Bodensee» war Auslöser
der Herzogenberg-Renaissance in Heiden ab dem Jahre 2000.
Lesen Sie die emotionalen Gefühle des Dramatikers bei seinem Rundgang durch
das verwaiste «Abendroth»! |
Goethes
Geburtstag am 28. August 1903
Der 28. August war über Jahre der wichtigste Tag im «Morgenroth».
Johann Wolfgang von Goethes Geburtstag wurde jedes Jahr gebührend gefeiert.
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Ein Aquarellbild
als Bereicherung
gezeichnet von der Sängerin Johanna Wolff im Juli 1910. Ihr Name findet sich erstmal 1899,
anschliessend jeden Sommer bis 1915.
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Trotz der Kriegsjahre:
das sommerliche
fröhliche Leben im «Morgenroth» geht weiter ‒
doch die Bildwahl lässt auf die schwierigen Umstände ahnen. |
Eine
muntere Gesellschaft am 2. August 1917.
Unter den zahlreichen Unterschriften ist jene von Thea Graf zu erkennen. Wer im «Morgenroth» nicht
mehr Platz hatte, wohnte bei ihr in der nahegelegenen Pension Nord.
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Der spätere Kunstmaler und Radierer Emil Schmid
(Dokumentarfilm
des Museums Heiden über Emil Schmid) aus
Heiden fand schon als Knabe Gefallen am idyllischen «Morgenroth» und er
zeichnete es auch. Dabei traf er erstmals mit Frau Prof. Breiderhoff
zusammen. In näheren Kontakt mit ihr kam er aber erst viel später
durch internierte deutsche Offiziere, die 1917 in der Pension «Paradies» in
Heiden einquartiert waren. Frau Breiderhoff lud einige von ihnen zu
Hauskonzerten ein und sie durften auch den jungen Maler, der ihr Nachbar
war, mitbringen. Thea Graf von der Pension Nord gehörte ebenfalls zu den
Gästen. Emil Schmid wurde in den Sommern 1917 und 1918 immer wieder
eingeladen und kam so zum Beispiel in den Genuss sämtlicher Klaviersonaten
von Beethoven, an vielen Abenden gespielt von Karl Salewski, dem Direktor
des Konservatoriums in Erfurt.
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Hauskonzert im
«Morgenroth» 1918.
Zeichnung von Paul
Tanner, Kunstmaler in Herisau, Schöpfer der Ausserrhoder Frauentracht.
Zu finden sind u.a. die Unterschriften
von Nelly und Otto Maag. |
Der letzte
Eintrag von Nelly und Otto Maag im Gästebuch am 16. September 1918
2 Jahre später schreibt Emil Schmid ein Schlusswort mit einer Foto
des «Morgenroth». 1968 schliesslich berichtet Schmid über den
zweifelhaften Charakter vom Maag.
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Nach dem ersten Weltkrieg machte sich in Deutschland eine
immer katastrophalere Inflation bemerkbar. 1919 konnte Frau Breiderhoff
nicht mehr in die Schweiz reisen und schliesslich war sie gezwungen, ihr
geliebtes «Morgenroth» zu veräussern. Sie bot es Emil Schmid an. Sie wusste,
dass es bei ihm in guten Händen sein würde. Im Herbst 1920 konnte er die
Liegenschaft übernehmen. Im April 1921, frisch verheiratet, gründete er
darin einen eigenen Hausstand und lebte dort bis zu seinem Tod 1978.
1929, anlässlich ihres 80. Geburtstags, kam Elise Breiderhoff
ein letztes Mal nach Heiden, sie logierte in der Pension Nord.
Hermann Schmid
Quellen:
- «Fremdenbuch für Häuslein Morgenroth»
- Mündliche Überlieferung durch Emil Schmid
- Mündliche und briefliche Angaben von Dr. Bernd Wiechert
- Konrad Klek: Herzogenberg in Heiden (in: Musik und Gottesdienst -
Zeitschrift für evangelische Kirchenmusik, Heft 4, 2002. Friedrich Reinhardt
Verlag)
- Anregungen von Andres Stehli
- Lexika |
Einbanddeckel hinten
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«Morgenroth». Radierung von Emil Schmid, Oktober
1921.
Das «Morgenroth» im Zustand, wie er es von Frau Breiderhoff
übernommen hatte.
Im ehemaligen Stall-Trakt befand sich das Musikzimmer mit der
Fensterfront
gegen Nordosten, also dem Morgenrot am Sonnenhimmel zugewandt.
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Und so zeigte sich das «Morgenroth» am 23. September 2006.
Hier
wohnt zu diesem Zeitpunkt der Sohn, Hermann Schmid.
Im Anbau mit der hohen Fensterfront hatte Emil Schmid sein Atelier
eingerichtet.
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Klick! |
Möchten Sie den Kunstmaler Emil Schmid kennenlernen? Hier gelangen Sie
zum Film «Emil Schmid
‒ Maler
der Stille», den das Museum Heiden zur Sonderausstellung
geschaffen hatte.
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Rufen Sie hier
das neue
multimediale Filmportrait ab:
«Herzogenberg
und Heiden».
Dauer: 28:22 Min.
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01.04.2021/Andres Stehli |
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